Früher war das Früher anders

Früher war das Früher anders.
In den 80ern war das Früher schlechter. Noch schlechter als das Früher von heute. Das Früher von heute meint schlimmstenfalls peinliche Schlagermusik, die man Neue Deutsche Welle nennt. Das Früher von früher meint Marschmusik. Als man noch nen Führer hatte, im Früher von früher. Da sprach man vom Dritten Reich. Heute sind die Ewiggestrigen schon froh, wenn’s für die Dritten reicht. Im Früher von heute waren die Renten sicher. Im Früher von früher fühlten sich die Rentner von früher sicherer.
Heute sind diejenigen, die im Früher von heute gegen die Ewiggestrigen von früher auf die Straße gingen, angeblich die Ewiggestrigen. Die am Althergebrachten festhalten. An so nem Quatsch wie Sozialstaat und Gerechtigkeit.
Früher war das Früher noch früher. Auch für die Spätgeborenen, die mit der Gnade Ausgestatteten, wie den Großen Aussitzenden, den man Birne nannte, obwohl ihm nie ein Licht aufging. Lag vielleicht an der Frau Gemahlin. Oder an den schwarzen Koffern.
Früher war die Biene Maja noch eine nervtötende, weil altkluge Insektin und die Tigerente ein harmloses Mitziehvieh im schönen Panama. Nicht im echten von Noriega, der Narbenkappe. Heute stehen die Phantasiefiguren für einfallslose koalitionäre Farbspiele. So ne inflationäre Infantilisierung wäre bei den beiden Helmuts nicht möglich gewesen. Früher.

In den 80ern gab es viel Früher, aber keine Zukunft. Heute gibt es eine, aber eine miese. Ohne Alternative, wie es heißt. Seit den 90ern. Hatte damals schon die „Iron Lady“, Maggie Thatcher, angekündigt. Früher dachte ich, sie wäre in dem Song von Bob Dylan gemeint. „We ain’t gonna work on Maggie’s farm no more…“ Aber den gab’s ja noch früher. Und auch der Abkanzelbunker Schmidt mischte da mit. Da durfte noch geraucht werden. Im TV. Früher.
Es gab in den 80ern eine Partei, die nannten sich „die Alternativen“. Die Alternativen sind gealtert und naiv. Sie waren früher auch nicht besser. Können sich nur schlechter daran erinnern. Die Partei gibt es übrigens immer noch. Nur unter anderem Namen. Nennen sich jetzt Jäger 90 oder so. Früher gab’s den Starfighter. Da stürzten mehr als 200 von ab. Auch ne Art von Abrüstung. Naja. Die Jägerpartei sagt heute, es gäbe keine Alternative zu Krieg und Kapitalismus. Und basht eine andere Partei, die sich links nennt, nur unter anderem Namen, aber genau dasselbe zum Programm erhebt wie „die Alternativen“ von früher. Legalisierung von Hasch, Verstaatlichung der Energiekonzerne, Abschaffung von Bundeswehr und NATO. Nicht nur der Starfighter per se. Gab’s schon mal. War nicht alles schlecht. Die Jägerpartei basht die Arbeiter- und Bauernpartei auch, weil letztere glaubt, dass das andere Früher nicht schlechter war als unser Früher. Angeblich ging es vielen besser im schlechteren Früher. Da musste man nicht Schlange stehen. Weil es nichts gab, wofür es sich lohnte. Früher.

Ich erinnere mich, dass ich damals, im unseren Früher, ein Buch mit dem Titel „Überlebenslesebuch“ gekauft habe, in dem nach der jeweils expliziten Apokalypsedrohung Aktionstips anhängten. Gäbe es kein Morgen, gäbe es noch ein Früher? Früher gab es kein Morgen. Man brauchte sich keine unnötigen Zukunftspläne machen, weil es keine Zukunft gab. Aber nen Verlag namens „pläne“. Bausparpläne waren, wenn nicht für nen Atombunker, oder Aktien waren, wenn nicht für die Alufolie, die man sich im Falle eines Fall-outs übern Kopf ziehen müsste, absolut nicht sinnergebend.
Ja, „no future“ war unter diesen Umständen quasi eine geradezu optimistische Aussage. Das sagten dann die unverbesserlichen Weltverschlechterer unter uns. Dann hatte man es wenigstens hinter sich. Und nun? Die 80er sind längst vorbei, und ich lebe immer noch. Darauf war ich nicht vorbereitet. Wollte eh nur 30 werden, weil man mich immer mit Jesus verglich. Wegen der langen Haare und des Barts. Der Witz hatte auch so nen. Und zumindest bezüglich der Lebenserwartung – müsste es nicht heißen: Todeserwartung? Oder zumindest: Lebenshoffnung? – wollte ich gleichziehen können. Früher. Jetzt bin ich über 40. Was würde Jesus da tun?

In den 80ern war es immer 5 vor 12. Da hatte man noch richtige Ängste. Vor richtigen Gefahren. Nicht so was Diffuses wie Schweinegrippe. Ha! Schweinegrippe. Ich bitte Euch.
Atomare Bedrohung (da sprach man sogar noch vom „nuklearen Holocaust“)? Wettrüsten? (Wer hat eigentlich noch mal verloren? Wie hoch war der Einsatz? Wer hat den Spielverlauf beeinflusst? Wer war Schiedsrichter, Unparteiischer?) – 5 vor 12! Waldsterben? – 5 vor 12! Flussvergiftung? Vergiftung der Weltmeere? Atommüllverklappung? Robbenseuche? – 5 vor 12! Bhopal, Tschernobyl, … – 5 vor 12!
Egal, welche Uhrzeit wirklich war, man brauchte niemanden zu fragen, wie spät es ist. Man wusste immer: zu spät. Und heute redet trotz Finanzkrise, trotz Regierungskrise, trotz Klimakatastrophe, trotz Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, trotz Bohlen und Bin Laden keiner mehr von der Uhrzeit, die in den 80ern diese kleinen Swatchdinger überflüssig machen konnte. 5 vor 12? Vergiss es. Vielleicht haben die Apokalypseapologeten auch zu häufig eins auf die 12 bekommen, dass sie nun 5 gerade sein lassen.
Und das Jahr stand auch fest: Es war immer 1984. „Big brother is watching you.“ Damals kein Unterschichtenfernsehen, sondern Endzeitdystopie. Volkszählung, Rasterfahndung – da war noch was los gegen den Überwachungsstaat. Heute gibt es Lidl, Google und Facebook. Und in den Containern waren früher sogenannte Gastarbeiter. Wirkliche Menschen mit wirklichen Problemen. Keine arschgeweihten und hirngepiercten Prekariatspromis.
Früher war der Frühling stumm, der Herbst war heiß. Der Sommer war eine Erfindung von Rudi Carrell und der Winter nuklear.

Gäbe es eine Zeitmaschine, flöge oder führe ich mit ihr in die 80er. Wie Michael J. Fox. Der aber in die 50er. Der beste Dialog in seinem Früher von früher war noch: „Wer ist denn dann Präsident?“ (also im Heute von früher, also im Früher von heute) – „Ronald Reagan.“ – „Und John Wayne ist Verteidigungsminister?“ Ich flöge oder führe aber nicht wegen der arabischen Terroristen zurück. Und nicht wegen der Wale. Nicht etwa wegen Nostalgie oder so was. Sondern um für das sozialverträgliche Frühableben von Joseph Fischer, Claudia Roth und Dieter Bohlen zu sorgen. Dann wäre ich mittlerweile wieder frei. Wegen mildernder Umstände. Weil der Fischer und die Roth damals ja noch auf unserer Seite des Bauzauns standen. Also auf der mehrheitsgesellschaftlich betrachtet falschen. Und Bin Laden stand auf der richtigen Seite. „Rambo III“ ist den mutigen Volksmujaheddin gewidmet. Der Abspann wird heute nicht mehr gezeigt. Aber der Streifen wurde von der FSK mit dem Prädikat: wertvoll ausgezeichnet – „wegen der märchenhaften Züge“.
Früher. Ach ja. Hör mir doch auf.

Jörg Siegert
veröffentlicht in der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

emiliano zapata in chiapas

(gewidmet den indigenas, nicht nur in mexico)

die
die sagen
es herrschen
ruhe und ordnung
im land

meinen
die ruhe
auf dem friedhof
und
die ordnung
in den massengräbern

die
die sagen
die lage normalisiert sich

meinen
es ist normal
menschen
zu demütigen
ins elend zu werfen
in den müll zu jagen
ihre herzen auszureißen
ihre münder vollzustopfen
mit staub und
scheiße und
schlamm und
nicht zuletzt leeren versprechungen und
nicht etwa mit brot und
dem geschmack der freiheit
zu versöhnen –

die
die sagen
sie verfolgen hehre ziele

meinen
die menschen
die sie verfolgen
vertreiben
verhaften
foltern
morden

die
die sagen

es herrschen
ruhe im land
und wieder frieden
und ordnung noch

vergessen

es ist
die ruhe vor dem sturm
es wird
der frieden kommen
in dem
ihre ordnung ruht

in diesem frieden

pedro leum
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

In einem land vor gewerkschaft und lohn

In einem land vor gewerkschaft und lohn
einem land mit eisenarmierung
in so einer zone Pedro erlebt
der mensch seine wiedervertierung
Da bist du kein einziger Pietro mehr
da karrt man dich hin in partien
Du bist an den subunternehmer verkauft
und an das gastland verliehen

Monatelang im container zu zwölf
du hörst nur auf deinen polier
In einer kassette liegt dein paß
und die schuldverschreibung nach hier
Kommt geld bei deiner familie an?
wo willst du hin ohne paß?
was steht da wenn ’s fertig ist? dümmer als wind
ein weiterer hohlraum ist das

Einmal im monat kommt lou mit dem bus
Hast du schon pause Piet?
ziehn ab ob du dran warst oder nicht
Was da das mädchen von sieht
Du denkst du kommst nie mehr nach hause Pierre
und nie mehr aus schulden zu lohn
und nachts schreckst du auf schreist containerblech an
im alptraum von nassem beton

Und ist er fertiggegossen der bau
seht ihr die rostroten strähnen?
nach wenigen regen schon wie ein fluch:
das sind Pjotrs tränen
Kräne mischer gebläse beton
gestalten abdämmgewölle
Das ist Europas geldverbrennwelt
vor unsern augen die hölle

HEL
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

Blau und weiß

für Europa

Muß ich deinen Boden
mit fremden blauen Füßen betreten?
Muß ich mit
gefrorenen Knöcheln
an deine Tür klopfen?
Muß ich mein ersterbendes
Geschrei inmitten
des Schnees ausstoßen,
damit du mich für einige Sekunden
eintreten läßt in dein Königreich,
Wunder in verbotenen
Vitrinen erspähen läßt,
und deine prächtigen Kinder,
die schon gefrühstückt
zur Schule gehen?

ich ersticke
in diesem Container
wir sind viele
ich erfriere
habe keine Schuhe
habe kein Hemd
bin nackt

schau mich an Europa
die Lippen aufgeplatzt
vor Erschöpfung
vor Hunger
vor Kälte

eingefroren

„es reicht mir nicht“
sagst du mir am Feuer sitzend
hinter der Doppelverglasung
während du mich zittern siehst
ohne Schuhe
nackt
im Schnee

nichts habe ich,
reicht dir das nicht?
ach ja,
deine unendliche Barmherzigkeit
reicht aus
um mich ins Krankenhaus zu schicken
einige Tage bis
meine Füße aufgetaut sind
und ich stehenbleiben kann
um deine Fragen zu beantworten
und morgen steckst du mich
betäubt gefesselt
in ein Flugzeug
zur Rückkehr in meine Vergangenheit
ohne Zukunft

in was hast du dich verwandelt
Europa?

schau mich gut an,
erkennst du mich nicht wieder?
ich bin derselbe der
in deinen Ferien
diese köstlichen Gerichte kocht
die du deinen Freunden zeigst
auf Dias nach deiner Rückkehr
der mit dem Knoblauch, den leckeren
Gewürzen,
den frischen Fisch
serviere ich dir am Ufer
meines Meeres,
der, der dich im Boot mitnimmt
um die Grotten zu besuchen
der mit dem Lachen
der mit der einfachen Pension
der mit dem schönen und preiswerten Kunsthandwerk
das seit Jahrhunderten die Leute
in meinem Dörfchen herstellen,
warum erkennst du mich nicht
wenn du dort glücklich bist
und dein Lachen dann
alles überflutet?
wie kannst du dich
so verändern?
fast erkenne ich dich nicht wieder
in deinem Hochmut

aber wozu sage ich dir
diese Dinge
wenn du mich sowieso
sterben lassen wirst,
du wirst mich sterben lassen
und wirst sagen es war meine Schuld
und wie es mir einfalle
mich auszuziehen
der Schuhe zu entledigen
inmitten des Schnees
vor deinem Fenster
deinem Sessel deinem Ofen
deiner Ästhetik

gib es zu
ja, gib es zu,
ich zerstöre deine Ästhetik
mit meiner Armut
er ist so weiß dein Schnee
und da komme ich ihn zu beschmutzen
mit meinen nackten
blauen Füßen

trotzdem
nachdem du mich
zur Rückkehr gezwungen hast
werde ich es wieder sein
der Olivenöl auf
deinen Salat tut
neben dem Schafskäse
den Oliven und dem Fisch
nächsten Sommer
unter den Sternen
am Ufer des Meeres
nachdem du
die ganze Mittagssonne
getrunken hast

ich werde derjenige sein der die
einfachen Laken wechselt
des Bettes in dem du ruhst
mitten zwischen meiner Sonne
meinen Leuten
meiner Armut
was deine Kamera wieder
exotisch finden wird
und dein Lachen wird alles feiern
und du wirst wieder glücklich sein
wie immer,
und wirst so tun als ob
du mich nie
gesehen hättest
mit meinen nackten
blauen Füßen
in deinem
so weißen Schnee

Isabel Lipthay

Übersetzung aus dem Spanischen: Martin Firgau
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

Aus gegebenem Anlaß: Das Feuer und das Wort. Offener Brief an Berthold Brecht.

Lieber Berthold Brecht,

dieses eine Mal in Santiago, erinnerst du dich? Während sie, die immer Gleichen, ihre Arbeit als Brandstifter gegen das Papier und die Buchstaben verrichteten… während sie mit ihren Gewehren die Bücher in den Scheiterhaufen im Hof meines Hauses stapelten… dieses eine Mal in Santiago 1973, ich, geduckte Gestalt voller Angst, dachte an dich.

Die Buchrücken verbrannten geschwind in jenem düsteren Frühling; die Blätter knisterten, die Gesichter auf den Fotos verzerrten sich; der Rauch war unerträglich blau und schwarz…
Sie und wir, wir und sie schrieen in verschiedenen Tonlagen, schrieen… und die Feuer brannten, im Hof durch ihre Stiefel noch verstärkt, durch ihre Waffen, unsere Bücher, unsere Dokumente und Liebesbriefe… Sogar die Marx Brothers verbrannten.

Die Soldaten brüllten Schimpfworte und Verfluchungen. Wir mit unserer endlosen Angst, in die Brandherde zu fallen und in das Labyrinth verborgener Kerker der Folter, des Verschwindens, des Wahnsinns.

Ich konnte nicht von ihnen fordern, dass sie meine Bücher verbrannten, wie du es getan hattest, Berthold, weil ich noch keines geschrieben hatte. Ich war kaum eine Studentin im Fach Journalismus, die gerade begonnen hatte, vor dem Entsetzen, das sie erlebte, ihren Verstand im Schreiben zu schärfen.

Unter dem Bett von Alcibiades, aus meiner Wohngemeinschaft, fanden sie die riesigen Bände von „Das Kapital“, danach wusste ich nichts mehr von ihm. Die letzte Spur seines Lebens waren seine Bücher gewesen, die im Hof meines Hauses in der Septemberhölle verbrannt wurden.

Monate später, als Überlebende des Brandes unserer Existenz, traf ich Alcibiades mit seinem ewigen großen Lächeln unter dem Schnurrbart – auf irgendeiner Straße von Buenos Aires, wo ich – in einem Lastwagen versteckt – landete. Ich hatte geglaubt, er wäre schon tot, wie so viele andere Bekannte, die umgekommen oder verschwunden waren.

Zu jener Zeit war Argentinien noch ein freies Land, bis drei Jahre danach die Bücher und die Freigeister mit der gleichen Brutalität wie in Chile und wie in deinem Deutschland damals, Berthold, verbrennen sollten. Und der Diktator Videla äußerte im Fernsehen in Bezug auf die Vermissten: „Es bleibt ein Rätsel. Er ist ein ‚desaparecido’, hat keine Identität, ist einfach nicht da, weder als Lebender noch als Toter, er ist ‚verschwunden’.“

Ich schreibe dir diesen Brief aus Kalifornien im Jahre 2008, während Bush und seine Komplizen die Worte und den Geist von Irak verbrennen, dieses Feuer, das nie zu Ende geht in der Geschichte der Schande.

Eine unsägliche Angst vor den Worten haben sie, diese Mörder aller Freuden!
Alter Berthold, danke, dass du uns daran erinnerst. Auf Wiedersehen, bis wir uns im Paradies der Worte wiedertreffen werden.

Isabel Lipthay
Aus dem Spanischen übersetzt von
Dr. Pilar Baumeister

Isabel Lipthay ist eine chilenische Autorin und Sängerin. Sie floh vor der politischen Verfolgung durch die Pinochet-Diktatur und lebt in Münster.
www.contraviento.de

aus der Luftruinen-Ausgabe 4, Frühling 2009

Sommerabend

letzte Sonnenstrahlen
überlassen der grünen Abendkühle
den kleinen Park

vor dem Eisengitter
wildes, hohes, struppiges Gras
ahnt Taunässe
streckt sich danach

die Bäume warten
wie Wächter
auf die Nacht

tanken kühles Dunkel

ahnen schon die Hitze
in der der Schatten
Kühle zurück fordert

Herbert Beesten
aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009

Lügenstraße

Diese Straße ist eine Lüge. Sie ist eine alte und etablierte Lüge, sie hat sogar Anerkennung im Stadtplan gefunden und trägt den Namen eines lange toten Bürgermeisters. Aber sie ist eine Lüge. Ich weiß das. Ich lebe hier.
Die Häuserfassaden tragen Zierat des letzten Jahrhunderts. Schilder sprechen von Renovierung, von entstehenden Luxuseigentumswohnungen, aber die Fenster der Häuser, in denen 365 Tage im Jahr kein Hammer und kein Pinsel geschwungen wird, schweigen, zu stolz für die Wahrheit.
Man spricht von guter Nachbarschaft, es gab ein Straßenfest im Sommer. Die Lüge dauert an. Die Leute, wenn sie sich im Treppenhaus treffen, schweigen wie die Fenster. Sie wohnen zu lange hier. Mit den Jahren werden Lügen zu schwer, um sie noch abzuwerfen.
Sie ist keine großartige Lüge, diese Straße, keine Poetenlüge vom Zirkus in der Stadt, von Regenbogenpfaden. Sie ist die Lüge eines ganzen Lebens, die Schlimmste aller Lügen, das Leugnen, das Nichtwissenwollen. Die Schreie nachts in der Wohnung hat niemand gehört. Die Frau, die auf der Straße weinte, hat niemand gesehen. Den Mann, an dessen Händen Blut war, als sie ihn festnahmen, hat niemand gekannt.
Aber man kann nicht so lange lügen, nicht so lange schweigen, ohne daß die lebendige Welt selbst es spürt. Die Straße wird dünner, leichter, an heißen Sommertagen flimmern die Häuser und werden durchsichtig. Geräusche werden von ihnen nicht mehr zurückgeworfen, sie verhallen in der Leere. Taxifahrer finden die Adressen nicht mehr.
Vor hundert Jahren wurden diese Häuser gebaut, aus Gips und Latten, billigen Ziegeln und Stuck. Sie brechen unter den Tritten. Vielleicht lösen sie sich eines Tages ganz auf und verwehen, und die wirkliche Welt wird sie vergessen haben.

Ingeborg Denner
aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009

Warum Anarchie?

Weil die Tage im Kapitalismus verbrennen und kein Wasser die Flammen löscht. Weil sein Licht überall ist und auf den Körper geklebt jeden Zentimeter des Lebens erniedrigt. Weil den Nächten die Worte fehlen. Und der Schlaf der Vorbote der Arbeit ist. Weil das Klingeln des Weckers den Morgen erbricht, und weil die sinnloseste Fortsetzung der Übelkeit die Betriebe sind. Weil die Jahre zur Arbeitszeit verkommen. Weil die Hoffnung den Kredit abzahlen muss.

Weil die Mittage von den Chefetagen herunterfallen wie Steine. Weil die Steine nicht zurückfliegen dürfen. Weil Betroffene kein Rückgaberecht besitzen. Weil die Entscheidungen von oben kommen. Weil es Gewinner und Verlierer gibt. Weil das alles so bleiben soll. Weil die Geschichte mit dem Zeigefinger nach unten zeigt. Und irgendwer die Angst vor der Freiheit erfand.

Weil die Sonne auf dem Dienstweg daher kommt und die Nachmittage Verzichtserklärungen gleichkommen. Weil der Staat das Ende aller Revolutionen festschreibt. Weil das Leben eine Landschaft ist für die Dienstwagen der Regierungen. Und Wahlen nur Rastplätze sind, auf denen Parteien Stimmungen Gassi führen. Weil die Medien den Alltag an der Leine halten. Weil die Zukunft eine Veranstaltung von Parteizentralen ist. Während die Konzerne Rastplätze bauen und Verzichtserklärungen verteilen.

Weil uns die Arbeit ermüdet. Und kein Atem bleibt für die Frage nach Freiheit. Weil die Abende kurz sind und jeder Tag uns ins Feuer stößt. Weil sich das alles ändern kann. Weil Hierarchien keine Ideen sind und Macht keine Antwort. Weil Rastplätze kein Ersatz für Landschaften sind. Weil in Zukunft jede und jeder mitreden soll. Weil der Tag allen Menschen gleichermaßen gehört. Weil wir Fragen in die eigenen Hände nehmen können. Weil wir neue Sätze schaffen. Weil wir keine Verzichtserklärung unterschreiben.

Ralf Burnicki

aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009

hommage à hypnos

starre ozonlöcher in die luft
meine alkoholfahne hängt auf halbmast
gitarren und preßlufthammer zerreißen meinen kopf
eine kugel im labyrinthspiel
die löcher warten schon

der aschenbecher qualmt gelangweilt
in media res
schimmelt sich eine apfelkitsche davon

die erinnerung
die nacht fiel
über die letzten tagesfetzen her und

die sonne knallte
noch verzweifelt
ihre letzten staubzerfressenen strahlen
auf fliehende menschen
unterm brennglas und auf dem backblech
bis der himmel trauer trug und
zwischen dem milchigen bierkäfig bildete
sich ein prilschaumtrapez und

jetzt jault und jammert
der wasserkocher um erbarmen
zerfrißt alsbald eiskalt
die milchwolke den teehimmel
wie ein gelber trauerflor
der wasserhahn hat volles rohr
schluckauf
flüssigkeit jeder klarheit entrissen
aus dem toaster kriecht
asche
vertrieben aus
meinen montagsmorgengeplagten sehorganen
durch blutfarbene marmelade

ewige erdbeerhänge
sind wirklich nicht wirklich

sissy voss
aus der Luftruinen-Ausgabe 1, Sommer 2008

Heute der Kühlschrank…

In dieser Nacht rumpelte es wieder im Kühlschrank. Ich stand auf, überprüfte die Schlösser: Sie hielten noch, nur die Wände schienen sich etwas weiter ausgebeult zu haben. Besorgt legte ich mich wieder hin.
Der Kühlschrank mußte unbedingt entsorgt werden. Aber wohin? Gorleben fiel mir ein. Vielleicht würde das Salz dem Kühlschrankinhalt das Wasser entziehen und ihn umbringen. Oder man könnte den ganzen Kühlschrank in Glas eingießen. Nur, wer sollte das bezahlen? Eigentlich ist doch der Staat dafür zuständig, die öffentliche Sicherheit zu finanzieren… Aber wer würde mir glauben?

Es hatte angefangen, als ich aus dem Urlaub diesen Sommer zurückkam. Die Stadtwerke hatten mir den Strom abgedreht, weil ich im Urlaub natürlich nichts bezahlt hatte. Der Kühlschrank, ein Erbstück aus den fünfziger Jahren, auf den ich sehr stolz gewesen war, ehe er zu meiner Nemesis wurde, stand in einer übelriechenden Pfütze.
Ich öffnete die Fenster, damit die Pfütze besser wegtrocknete, und vergaß die Sache. Als sie mir nach einiger Zeit wieder einfiel, verdrängte ich sie. Ich konnte mich einfach nicht überwinden, mich dem Grauen im Inneren des Kühlschranks zu stellen. Man wird das verstehen. Immerhin bezahlte ich die Stromrechnung wieder.
Vielleicht würde Fritz zu Besuch kommen und, wie er das immer tat, über meine verlotterte Hauswirtschaft die Hände überm Kopf zusammenschlagen und beim Weggehen den Müll mit runternehmen. Fritz, wie man sieht, graut es vor nichts.
Eine Woche später kam eine Postkarte von Fritz: Seine Firma hatte ihn in die äußere Mongolei versetzt.

Da saß ich nun mit meinem Kühlschrank.
Manchen Abend starrte ich ihn an und fragte mich, was ich vor meinem Urlaub darin vergessen hatte. Ich rief all meine Freundinnen an, die meist besser wissen als ich, was in meiner Bude wo zu finden ist, und kam auf folgende Liste: Ein paar Möhren. Eine angebrochene Dose Ölsardinen. Ein alter Socken. Ein Rest Nudelauflauf. Ein Feuerzeug. Zwei Paprika. Ein Joghurt. Mein Bibliotheksausweis. Ein halber Schokoladenweihnachtsmann und ein Rest von einem Glas Essiggurken.
Ich seufzte und beantragte einen neuen Bibliotheksausweis.
Damals fürchtete ich mich am meisten vor den Ölsardinen und dem Nudelauflauf. Den Essiggurken traute ich nicht genug Initiative und Reaktionsfreudigkeit zu, um eine Bedrohung darzustellen. Wie schrecklich habe ich mich geirrt!
Im Herbst kam Ellen zu Besuch und öffnete, auf der Suche nach Bier, den Kühlschrank, ehe ich sie warnen konnte. Als ich sie wiederbelebt hatte, stammelte sie etwas von Ölsardinen, die um die Überreste eines Schokoladenweihnachtsmanns kämpften. Das bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Ich trauerte etwas um den Weihnachtsmann, der ein guter alter Kerl gewesen war, und klebte ein Schild auf die Kühlschranktür: Außer Betrieb.

Wochen vergingen. Ich spielte mit dem Gedanken, die Feuerwehr oder den Katastrophenschutz zu benachrichtigen, kam mir dann aber doch lächerlich vor.

Eines Nachts hörte ich, wie der Kühlschrank sich öffnete. Entsetzt fuhr ich auf, griff mir die Rückenlehne des kaputten Stuhls aus der Ecke und pirschte mich an den Kühlschrank heran. In dem schmalen Lichtstreifen, der aus der offenen Kühlschranktür fiel, sah ich zwei angeschlagene Ölsardinen fluchtartig ihre Heimat verlassen. Ich erschlug sie mit der Stuhllehne und betrachtete gerade angewidert ihre Überreste, als sich plötzlich ein Schatten vor den Lichtstrahl aus dem Kühlschrank schob. Ich schlug die Kühlschranktür zu – in letzter Sekunde, wie mir ein dumpfer Schlag und ein Klappern im Inneren des Geräts verrieten.
In dieser Nacht fand ich keine Ruhe mehr. Was war es, daß den Ölsardinen so übel mitgespielt hatte? Was hatte in dieser Nacht versucht, aus dem Gefängnis des Kühlschranks zu entkommen? Der Joghurt? Der Nudelauflauf? Ich holte eine Rolle Klebeband aus dem Wäschekorb und verklebte die Kühlschranktür, fest entschlossen, es niemals herauszufinden.
Aber die menschliche Neugier ist stärker als die menschliche Vernunft. Was ging in meinem Kühlschrank vor sich?

Kurz vor Silvester konnte ich der Versuchung nicht länger widerstehen. Lautlos durchtrennte ich das Klebeband und riß die Tür auf.
Das plötzliche Licht schockierte die Essiggurken, die um den umgedrehten, leeren Joghurtbecher herum auf dem Gemüsefach saßen. Die Wände waren grausig mit den Gräten besiegter Ölsardinen dekoriert. Eine besonders große Gurke, die grade Diagramme in den Rauhreif an den Wänden kratzte, drehte sich zu mir um. Im Gemüsefach selbst gingen zahllose Essiggurken ihren täglichen Geschäften nach, lebten, wuchsen und vermehrten sich zweifelsohne.
Ich warf die Kühlschranktür zu und sicherte sie nicht nur mit Klebeband, sondern auch mit allen Fahrrad- und Motorradschlössern, die ich finden konnte.

In der folgenden Nacht rumpelte es wieder im Kühlschrank. Ich schlich mich heran und hörte die essigsaure Stimme der Großen Gurke. Ich verstand sie nicht, doch es klang, als würde sie eine Rede halten. Manchmal antwortete ein Chor geringerer Stimmen. Sie schienen ein Marschlied zu singen.
Ich konnte nicht mehr schlafen. Morgen werde ich irgendjemanden anrufen. Nur – wer ist für meinen Fall zuständig?

Ingeborg Denner
aus der Luftruinen-Ausgabe 1, Sommer 2008