Eine von diesen Partys

Es war eine von diesen Partys, wo Wörter sich treffen. So etwas muß es ja auch geben, und für gewöhnlich sind sie gut frequentiert. Wörter aller Klassen und aller Herkunft treffen sich dort. Aber wie das so ist, auf Partys bilden sich Cliquen und Grüppchen, die in den Ecken stehen und an ihrer Buchstabensuppe nippen.
Da hinten sitzt das Amtsdeutsch mit grauen Gesichtern und ernstem Blick, es debattiert über Wortzulassungen und Buchstabenquoten. Nicht einmal die Modewörter, die quirligen Sehen-und-gesehen-werden-Wörter, verlaufen sich in diese Ecke.
Drüben bei der Sektbar steht der poetische Kreis. Kunstwerke, jedes einzelne von ihnen, manche nicht den Launen der Sprachentwicklung entsprungen, sondern Kinder namhafter Väter: Wolkendunst steht dort und Glasmenagerie.
Die Klischees fläzen sich auf der Sitzgruppe. Herz und Schmerz sind immer noch am turteln – mitten im Spotlight, natürlich. Wörter kommen meist in Gruppen oder Pärchen hierher. Einige gehen irgendwann wieder, viele bleiben hängen. Es ist so gemütlich hier bei den Klischees.
Vom Balkon kommen fröhliche Stimmen. Das sind die Klangwörter, die lautmalerischen Wörter, und sie haben entschieden zuviel Sekt gehabt, sie kichern und freuen sich an sich selbst. Firlefanz ist da und Dösbaddel, Holterdiepolter, und auch Sauerkraut hat auf einen kurzen Lacher vorbeigeschaut, ehe es wieder in den vertrauten Kreis der Haushalts- und Küchenwörter zurückgeschlappt ist, lauter nüchterne, vernünftige Wörter, die nur selten zu Eskapaden neigen.

Vernünftige, sachliche Wörter stellen auch auf diesen Partys die Mehrheit, selbst wenn man sie nicht wahrnimmt.
Nur die Mitglieder des grammatikalisch-lexikalischen Zirkels beachten sie. Diese Wörter sind sehr ernsthaft, und manche von ihnen sind immer noch fremd hier: Kasus, Genus, Deklination. Eingeborene dieser Sprache sind Wortwahl und Stil. Sie alle beobachten und notieren. Ein neues Wort, der ehrwürdige Zirkel schüttelt die Köpfe. AlMilMö, nein, wirklich, das darf es nicht geben. Gekränkt schleicht das Akronym davon. Vielleicht hätte es bei den Herren vom Amtsdeutsch mehr Glück, die stehen sowieso nicht so gut mit den Grammatikern.

Die Ideen tragen schwarz und kapseln sich ab. Sie beklagen ihren Ausverkauf, die Flecken auf ihren Gewändern, den hohlen Klang, der sie in Echos verfolgt. Gerechtigkeit. Harmonie. Frieden. Wenn sie sich unbeobachtet glauben, flirten sie mit den Klischees auf ihren rosa Kissen.
Manche Wörter gehören zu keiner Clique. Manche sind überall zuhause, Bewegung zum Beispiel oder Veränderung. Sie kennen jeden, grüßen jeden und sind, scheint’s, überall gleichzeitig. Die Modewörter beneiden sie darum.
Andere brauchen nichts und niemanden, ruhen in sich selbst und ihrer klaren Bedeutung. Hängematte pflegte zu ihnen zu gehören, doch man sagt, selbst sie nimmt jetzt Geld von der Propagandastelle, die unschuldige Wörter einkauft und für ihre Zwecke benutzt. Hängematte bestreitet das: Es handle sich um eine Metapher, und für ihre Metaphern sei sie nicht verantwortlich.

Und manche sind ihrer Natur nach nirgends zuhause. Da sind sie, in Schwarz wie die Ideen, doch weder fleckig noch schick, eine alte Familie zeitloser Wörter, die jeder benutzt und keiner bezahlt, ein stolzes Lumpenpack, niemand und nimmermehr, nein und nicht und nirgends und all ihre Brüder und Schwestern, die Negationen. Kein Wort will mit ihnen zu tun haben, sie verkehren sie, krempeln ihr Inneres nach außen, machen sie zu Fremden in sich selbst. Jeder weiß natürlich, man kann sie nicht nicht einladen. Sie bringen ihre Widersprüche mit wie arme Verwandte, und alle wünschen, sie würden woanders hingehen.

Aber so ist das auf Partys, besonders auf großen: Letztlich kann man sich nicht aussuchen, wen man trifft.
Irgendwann ist die Party aus, und alle gehen nach Hause, zwischen Buchdeckel und in Reden, in Akten und Gedichte, in Gespräche, Rufe, Befehle und Klagen. Sie haben viel gesehen, viele andere Wörter getroffen und – alles in allem – nichts dazugelernt. Was erwartet man.
Trotzdem freuen sie sich alle auf die nächste Party.

Ingeborg Denner
aus der Luftruinen-Ausgabe 1, Sommer 2008

Irgendwo / Nirgendwo (Eine Geschichte mit Schlag)

Irgendwo da draußen schlägt ein Herz einen unregelmäßigen Rhythmus an, stockt schließlich ganz und gibt einer Seele die Möglichkeit, aus ihrer erbärmlichen Hülle zu fliehen.

Der Körper, nun leblos, ist nur noch eine leere, schlaffe Hülle, die bald die verzerrten Züge der Leichenstarre tragen wird. Trauer- und Testamentbeteiligte jammern und klagen am Sterbebett, während sie das Erbe kalkulieren und sich ausrechnen, wie viel der Trauer angemessen und würdig erscheint.

Irgendwo dort oben sitzt ein untersetzter Herr auf einer Wattewolke, lässt die Seele in sein Büro bitten und blickt in ihr tiefstes Inneres, um zu prüfen, ob sie für das Paradies hinter dem Schuppen bereit ist und auch die notwendigen Formulare korrekt ausgefüllt hat.

Irgendwo da unten wartet ein anderer Herr darauf, dass die Seele dem da oben als unwürdig erscheint, und säubert sich nebenbei gelassen seine Fingernägel mit einer scheußlichen Pieke.

Er rückt sein Hinterteil auf einem roten Samtkissen bequemer zurecht und zieht die ihm angenehm warme Temperatur von 180 Grad durch seine enormen Nasenflügel ein.

Dazwischen zischen ein paar geflügelte Kastraten hin und her und erzählen komische Dinge über Himmel und Hölle, damit sich die Herren über irgend etwas amüsieren können…

…und…

Mittendrin sitzt der Mensch in seiner Kirche, friert sich den Arsch beim Beten ab und hat vor lauter Angst die Hosen voll, weil ihm sein Arzt von steigendem Herzinfarktrisiko erzählt hat.

AMEN

Sybille Lengauer
aus: Luftruinen-Ausgabe 4, Frühling 2009, siehe Archiv

Wieder natürlich

Wenn ich Bäume sehe,
denke ich an Dich,
denn wegen Dir
stehe ich im Wald.

Wenn ich Gras sehe,
denke ich an Dich,
denn wegen Dir
läge ich gern drunter.

Wenn ich einen Bach sehe,
denke ich an Dich,
denn wegen Dir
gehe ich diesen runter.

Jörg Siegert
aus: Luftruinen-Ausgabe 4, Frühling 2009, siehe Archiv

Frühling

HER GÜN UMUTLA PAZARLIK YAPMAK…
(Jeder Tag ist ein Deal mit der Hoffnung)

Es sollte anders werden. Der Frühling, Hausbesetzer alten Schlages, war in den Norden eingestiegen, riss ihm sämtliche Fenster auf und hätte noch fast die Zukunft instandbesetzt, wären da nicht einige Nächte aufmarschiert mit ihrem tiefsten Blaulicht und Schlagstöcken aus Wind und hätten sämtliche Ansichten geräumt. Doch der Frühling kam wieder mit seinen sonnigsten Kumpels und Kumpaninnen, den prächtigsten Mittagen, ellenlange Bekannte, die beinah von früh bis spät reichten. Und während sie den Straßen ins Kreuz fielen, wurden den Gärten die buntesten Graffitis gesprüht.

Aufs neue ist frisches Licht eingetroffen, die Ferngespräche beginnen gleich hinter dem Bahnhof. Telefonzellen wie frisch gestimmt, die Luft entgratet & im Spiegelglas der Sonnenbrillen zeigt der Tag erste Kurzfilme. Die Sonne fällt dem Himmel um den Hals, dass er blau anläuft davon. An Grünflächen und Bäumen entlang, den Zweigstellen städtischer Gesichtspflege, hat irgendein Griff die Wärme entkorkt. Von Park zu Park prosten sich Vögel zu mit diesem Jahrgang. Auf alteingesessenen Bänken legen sich Hände ineinander, Anhänglichkeiten sammeln sich in allen Sprachen, schenken noch mal nach, voll von liebengebliebenem Gefühl, dem menschlichsten aller Fossilien.

Stadt, glänzend mit funkelndem Asphalt, etwas Pflasterstrand und mehreren Reichtumsinseln, der ganze Großalarm mit grell aufblitzenden Fenstern, wenn der Himmel die Lichthupe drückt, und Parkanlagen, an denen sich die Helligkeit erdet. Während ringsum die Suche nach Neuland beginnt, die Phantasie von Blinkgeber bis Anlasser startet, was los ist, auf Blickfang und Lippensuche künftigen Nistplätzen entgegen. Niemand kämmt heute das Gras gerade. Und der Frühling feuert noch immer wie verrückt seine Kollegen an, die heimlichen Hoffnungen und Enttäuschungen. Sie samt und sonders machen Überstunden, dass es eine reine Fotosynthese ist.

Ein Shampoowechsel weiter ist Samstag. Samstag, das ist der Parkplatz zum Sonntag. Hier werden Autos entstaubt, Motorhauben mit Politur gesalbt, allerlei Wirtschaftswunder in Position gebracht. Strenge Besitzerblicke walten ihres Amtes und befehlen Putzlappen an vordersten Chrom. Die Bäume hängen Blätter hoch an ihre Wäscheleinen. Und folgerichtig kommt er, der Sonntag mit einem vom Typ her anderen Nachmittag, made in Germany, eher ein Familienmodell mit gutgepflegten Bräuchen, reihenweise Spaziergängen und fein abgestimmten Vorsätzen für Montag. Doch das ist eine andere Atmung.

Ralf Burnicki
aus: Luftruinen-Ausgabe 4, Frühling 2009, siehe: Archiv

Die Packungsbeilage Frustirizin 20/10 + Zeh©

Gebrauchsinformation für den Anwender
Lesen Sie die Packungsbeilage sorgfältig durch und denken Sie an diese Sache mit Ihrem Arzt oder Apotheker.

Was ist Frustirizin 20/10 und wofür wird es eingenommen?
Frustirizin 20/10 ist ein Lebens-Schmerz stillendes, Daseins förderndes und Freude erweiterndes Zeitgeist-Allergikum und Antidepressivum. Es enthält Lach-tose, hochdisperses Spass-Sulfat, Grins-Oxyd, Jux und Toleranz sowie einen transplantierbaren großen Zeh für alle, denen das Leben mal wieder so richtig auf die Füße getreten ist.

Anwendungsgebiete
Zur Behandlung von Symptomen krankhafter Verkleinerung der Zukunftsaus-sichten, chronischer Politikverdrossenheit, degenerativer Selbstverwirklichungs-Chancen und Überempfindlichkeit gegenüber Allem und Jedem.

Was müssen Sie vor der Einnahme von Frustirizin 20/10 beachten?
Frustirizin 20/10 darf nicht eingenommen werden von Frohnaturen, Ignoranten, Clowns und allen Personen des öffentlichen Lebens, die nachts ohnehin vor Lachen nicht in den Schlaf kommen. In vergleichenden klinischen Studien ergab sich kein Hinweis auf die Beeinträchtigung der Verkehrstüchtigkeit in gefestigten Zweier-Beziehungen, wo es hernach zu Schwangerschaften und Stillzeiten kommen kann. Das bedienen von Maschinen sowie das Führen von Wirtschaftsunter-nehmen sollte vermieden werden.

Wie ist Frustirizin 20/10 einzunehmen? (Dosierung)
Erwachsene nehmen 3 x täglich nach den Mahlzeiten auf nüchternen Magen eine Spiel-Filmtablette unzerkaut, vorzugsweise mit dem Saft von drei bis vier Gläsern Whiskey ein. Für Kinder und Jugendliche mit noch unbeschadetem Optimismus ist das Mittel ungeeignet, da es zu einer massiven Überdosierung führen kann.

Dauer der Anwendung
Bis zum Zeitpunkt, in dem Sie zu Staub zerfallen, sollte das Präparat nur nach Anweisung des behandelnden Arztes abgesetzt werden. Im Vollrausch sowie bei katatonischen und komatösen Zuständen können die Einzeldosen reduziert werden, ebenso bei Verlassen des Planeten.

Zusammensetzung
Frustirizin 20/10 kann eine oder mehrere der folgenden Substanzen enthalten:
Klebstoff, Crack, Exstasy, Alcopops, Jägermeister, Pizza Funghi, Happy Meal, zerkleinerte Comedy-DVDs, Spurenelemente von Tennissocken, bunte Farbstoffe, Surfbrett-Lack und Cool Water.

Wechselwirkungen mit anderen Mitteln
Untersuchungen zeigen, dass die Wirkung von Frustirizin 20/10 sich dauerhaft verstärken kann, wenn es zusammen mit Alkohol oder Cannabis eingenommen wird. Bei der Einnahme sollte man vorteilhafte Kleidung tragen, da beim Betrachten unansehnlicher Personen viele Patienten nicht selten eine rapide nachlassende Libido verspüren.

Nebenwirkungen
Kopfschmerzen, Herzrasen, Atembeschwerden, Lachflash, Schlaflosigkeit, Übel-keit, Verwirrungszustände, Halluzinationen, Tinitus, Schwindelgefühle gegenüber Politikern. Sehr häufig können Weinkrämpfe auftreten, selbst wenn Sie’s bis in den Recall geschafft haben.
In der Regel lässt das Mittel Sie grinsen wie ein bananengroßer Joint und dreht in Ihrer Welt alles um 180° oder ordnet es neu. Es kann sich gelegentlich aber auch unerwartet ein Gefühl der Einsamkeit, der Verlorenheit oder absolut geistiger Leere einstellen, was meist darauf zurück geführt werden kann, dass Sie gerade keinen Partner haben oder darauf, dass Sie einen haben. Nutzen Sie diesen Zeitpunkt, um einen Text zu schreiben – Titel: „Suizid ohne Reue“ – oder ein Parteiprogramm.
Die Einnahme kann in rechten Kreisen zu tolerantem Rassismus führen. Anfällige Patienten waren darauf überwiegend erfreut, sich kennen zu lernen.
Bei großer Hitze kann es zu schizoiden Persönlichkeitsstörungen kommen, die Sie glauben machen wollen, Sie seien ein Flash Mob oder ein Gefährte des Herrn der Finsternis, der selbst George W. Bush in eine mildes Licht taucht.
Eine Langzeitstudie zeigte, dass das Interesse am anderen Geschlecht sich abrupt soweit ins Gegenteil kehren kann, dass Sie sich selbst Top-Models schön saufen müssen. Jedoch ist Alkohol auch keine Lösung, sondern ein Destillat.
In Einzelfällen kam es zu überdurchschnittlich guter Blutzufuhr, die Männer in die Lage versetzte, Gehirn und Penis gleichzeitig zu benutzen. Dieser Umstand reichte dann entweder für einen Quickie oder die vollen 2 Minuten.
In Ausnahmefällen konnten Patienten Kraft ihrer Gedanken Wasser zum Kochen bringen.
Häufig konnten neben Pusteln und Hautrötungen auch Tathergänge und Vogelflug beobachtet werden.
Die Patienten einer Kontrollgruppe schliefen nach Einnahme des Mittels so gerne, dass sie sogar begannen, vom Schlafen zu träumen.
Personen, die unter Unentschlossenheit litten, waren sich nach Einnahme des Mittels nachher nicht mehr so sicher. In häufigen Fällen entschieden sich Patienten bei der Wahl zwischen zwei Übeln für das jüngere und hübschere.
Mitunter kann es beim Lesen der Zeitung oder bei den Nachrichten zur zwanghaften Wiederholung der Worte „Shit“, „Fuck“ oder „Nä, ne?“ kommen.
Es besteht die Möglichkeit, dass Sie heftiges Verlangen überkommt, während einer politischen Rede als Zuhörer immer wieder laut: „Helau!“ zu rufen oder den Tusch „tätä-tätä“ mittels Stimme zu imitieren. In diesem Fall siedeln Sie ins Rheinland um und ziehen sich einmal jährlich zum Lachen Uniformen an.
Zu einer Jahrtausendwende kann es zu Nachdenklichkeiten kommen. Viele Patienten kamen zur Einsicht, dass Minderwertigkeitskomplex von „minderwertig“ kommt.
Manche Patienten langweilten sich beim Thema „Sterbehilfe“ zu Tode.
An Wochenenden kann sich derart extreme Besinnungslosigkeit einstellen, dass ein Blackout im Vergleich dazu ein Sonnenaufgang ist.
Bei verschiedenen Versuchsgruppen stellten sich Magenwinde und Blähungen von einer Größe ein, die vom Wetterdienst mit eigenen Namen bedacht werden mussten.
An Freitagen, die auf den 13. fallen, kamen Patienten nach der Medikation zur Überzeugung, dass Aberglaube Unglück bringt.
Nach Einnahme stellt sich sehr häufig ein unstillbares Verlangen ein, die Dosis sofort zu erhöhen. Kämpfen Sie mit aller Macht dagegen an und lassen sich notfalls von einem Freund mit Handschellen an schweres Wohnzimmermobiliar fesseln, das nicht durch die Tür passt. Instruieren Sie Ihr Umfeld, Ihnen auch trotz heftigstem Verlangen, Bitten und Flehen keine weiteren Tabletten zu geben.

Gegenanzeige
Es kann trotz der Einnahme des Medikaments zu Untergangsstimmung kommen. Dies liegt daran, dass wir mit absoluter Sicherheit alle sterben werden. Wenn Sie durch diese Information nun in tiefe Melancholie fallen oder Frustration und Angst sich breit machen… willkommen im Club!
Sollte sich nach 4 Wochen keine Besserung einstellen, helfen nur noch Turnschuhe, Turnschuhe und nochmals Turnschuhe… Warum? Um weit, weit weg zu laufen…

Gute Besserung!

Achim Leufker
aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11

Zeit sich zu verändern

Es ist Zeit sich zu verändern
ihre Hand streicht durch ihr Haar
sie sieht ihrem Kaffee beim Kaltwerden zu
und denkt: all dies war schon immer da

und sie denkt: seit zwanzig Jahren
Kaffee Tag für Tag
eigentlich seltsam
wo ich das Zeug doch gar nicht so sehr mag

nebenan hört sie die Kinder
ihre Hand streicht durch ihr Haar
sie sieht ihrem Kaffee beim Kaltwerden zu
Tag für Tag, Jahr für Jahr

es ist Zeit sich zu verändern
sie hört ihn bei der Tür ihren Namen rufen
kippt den Kaffee ins Abwaschbecken
und der Regen trommelt leise
gegen die Fenster

Robert Martschinke
aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11

Alte Säcke

Die Liebe ist nur halb so schön,
wenn man nem Alten zugeseh’n,
der sich nach Jugend streckt,
in sich den Beau entdeckt:

Fast wie ein Leu, nur ohne Zahn,
pirscht Opa sich ans Gretchen ran,
sieht lüstern sich an ihren Zitzen,
saugen, kneten – Augen blitzen!

Doch kommt er nicht zum Sündenpfuhl,
hängt doch am Tropf er, und im Stuhl,
so geifert er nur, hohl und schal,
kratzt sich am Kopf, der beinah kahl,

Und seufzt, es sei die wahre Tugend,
dass man im Alter mild zur Jugend…

Sybille Lengauer
aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11

Fallsucht, eine Fallstudie

ich will Dir wohl gefallen
bereite ich Dir Wohlgefallen

ich lasse mir etwas einfallen
etwas Ausgefallenes womöglich

etwas wird mir dabei entfallen
(hoffentlich falle ich nicht aus dem Rahmen)

ich werde nicht ausfallend
ich werde nicht einfallen
nicht mit der Tür ins Haus

fall ich Dir auf
fall ich Dir auf die Nerven
fall ich Dir zu Füßen
fall ich Dir zur Last

bin ich gefallen
(das könnt’ Dir gefallen)
bin ich hinfällig

erhalte ich Beifall
rede ich wie ein Wasserfall

fällst Du mir in die Arme
fällst Du mir in den Rücken

fällst Du ein Urteil
das mich fällt wie einen Baum
fällt ein Wort
womöglich ein abfälliges

erleide ich einen Rückfall

bin ich Abfall
bin ich ein Altfall
fall ich unter die
Altfallregelung
bin ich ein Härtefall
lande ich weich
fall ich tief

was ist die Fallhöhe

lasse ich mich fallen
lässt du mich fallen

fall ich vom Fleisch
fall ich vom Glauben
fall ich aus allen Wolken
fall ich ins Leere
fall ich auf die Nase

ich bin wie befallen
ich bin Dir verfallen
ich bin am Verfallen
ich bin am Zerfallen

der Rest von mir
wird rechtmäßig Dir
zufallen

Jörg Siegert

aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11

’77 – ’92

Diese Straße ist sehr grade, sie geht von West nach Ost, sie ist neu, mit glattem, schwarzem Asphalt. Sie fängt den Wind, und die Kinder, die in den neuen Häusern an dieser neuen Straße wohnen, fangen ihn auch, wenn sie Rollschuh laufen, fangen ihn in ihren Jacken, von West nach Ost laufen sie, schneller und schneller und mühelos vor dem Wind, ehe sie über die schlammigen, noch ungepflasterten Gartenwege in die neuen Häuser gehen, um zu Abend zu essen und sich dann von den Fenstern ihrer Zimmer aus, die noch keine Vorhänge haben, Zeichen zu geben, geheime Zeichen, die die ganze Straße sieht, mit Taschentüchern und Taschenlampen: Morgen treffen wir uns wieder!
Die Zeit vergeht. Gartenwege und Gartenzäune wachsen in und um Gärten, dann Gras, dann Blumen, dann Bäume. Die Kinder spielen Hinkekästchen auf der Straße oder Federball. Eins der Mädchen spielt jetzt Volleyball im Verein und zeigt den anderen, wie es geht. Der Ball springt hoch auf dem glatten Asphalt. Im Sommer werfen sie mit Wasserbomben, werden naß und lachen und malen Muster mit dem Wasser, das zum Rinnstein läuft. Wenn ein Auto kommt, schreien sie alle „Auto!“ und spritzen in alle Richtungen davon.
Die Sonne sinkt rot im Westen am Ende der Straße. Die Bäume haben die Höhe der Fenster erreicht, deren bunte Vorhänge jetzt Poster von Pferden, Motorrädern oder Rockstars verstecken. Die Mädchen sitzen auf dem Zaun, schauen nach Westen, sie sprechen von Träumen und von Zukunft, von Orten, wo man hingehen möchte, weit von hier. Die Jungen stehen in der Garage um ein Mofa herum, mit fachmännischen Gesichtern, Bier aus Vaters Keller in der Hand.
Es sind jetzt mehr Autos auf der Straße, zwei oder drei vor jedem Haus, viele Golfs und Fiestas und eine rebellische Ente. Die Kinder lassen Motoren und Autoradios laut laufen, stolz, sie kommen spät heim. Eine empörte Mutter schimpft mit ihrer Tochter. Autotüren knallen. Der Motor heult auf. Dumpfe Schläge aus dem Radio. Mütter führen Hunde spazieren. Väter pflastern die Gartenwege neu. Die Bäume, schnellwachsende Fichten, müssen bald geschlagen werden, sie überragen die Dachfirste, nehmen das Licht, sind eine Gefahr für Häuser und Autos, wenn die Herbststürme kommen.
Die kleinen, schnellen Autos sind wieder fort. Audis und BMWs sind zurückgeblieben. Zwei Männer von der Stadt sind gekommen und haben Schilder an den Enden der Straße aufgestellt: Spielstraße! Schrittgeschwindigkeit! Achten Sie auf die Kinder! Die Kinder, wenn sie sich in fremden Städten treffen, nicken sich kurz zu, wie flüchtige Bekannte. Der Westwind treibt die welken Blätter einer einzelnen alten Eiche über den ausgeblichenen Asphalt.

Ingeborg Denner
aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11

Macavitys Erben

Mein Name ist Jerome. Man nennt mich den „ernsthaften Jerry“. Der pummelige Tabby da drüben, der gerade eine Motte frißt, ist mein Bruder Tullamore, kurz Tully. Er guckt ’n bißchen dusselig, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen, Tully ist ’n Genie.
Tully und ich hatten ’ne ziemlich schwere Kindheit, sind im Heim aufgewachsen. Da gab’s richtig harte Ganoven — die schwarze Tinka, die Ausbrecherkönigin, und Narben-Pete, den Schläger. Wir haben ’ne Menge Ohrfeigen gekriegt, vor allem ich, weil ich der kleinste war und so ein weißes Fell hatte, und immer haben die anderen uns alles weggefressen. Ich bin erst später gewachsen.

Unser Mensch hat uns da rausgeholt. Er macht das Katzenklo sauber, baldowert unsere Coups aus und krault mir den Bauch. Tully ist ’n bißchen etepetete, wenn’s ums Anfassen geht, und meint, wir bräuchten nicht wirklich ’n Menschen, aber ohne den Menschen wären wir immer noch im Heim. Und ich steh’ auf Bauchkraulen.
Das Beste ist, unser Mensch füttert uns. Leider war das immer nur so’n Napf voll, und wir waren Jungs im Wachstum. Wir haben dann kapiert, daß die Brekkies im Napf ja irgendwo herkommen mußten, und seither war Tully ganz kirre darauf, diese Brekkiebonanza zu finden.

Am Anfang war das echt einfach. Tully guckte, was der Mensch machte, wenn er Futter holte. Sobald er’s kapiert hatte, sind wir rauf auf den Schrank, runter mit der Dose und ran an die Beute. Später hat unser Mensch die Brekkies in ’nen Beutel getan, aber Tully hat den Beutel zerkaut, während ich Schmiere gestanden hab’. Dann war die Tüte hinter ’ner Tür, die haben wir auch aufgekriegt. Und dann hat unser Mensch so ’n Metallding an die Tür gemacht. Das war hart.
Drei Wochen Kohldampf schieben, und Tully starrte immer die Tür an und wie der Mensch sie aufmachte. Lag auf’m Schrank oder dem Boiler und lauerte. Ich weiß nicht, wie er’s am Ende gemacht hat, aber eines Tages war der Schrank auf und wir schlugen uns die Bäuche voll.
Also, Tully schlug sich den Bauch voll, und ich machte mir ernsthafte Gedanken darüber, was unser Mensch wohl sagen würde, wenn er nach Hause kam.

Unser Mensch guckte die Küche an und Tully (ich hatte mich hinter dem Sofa versteckt), pflanzte sich auf’s Sofa (ich verschwand unterm Sessel) und machte komische Geräusche. Dann sagte er: „Ich habe eine Idee.“
Wenn unser Mensch ’ne Idee hat, heißt das, wir kriegen ’n neues Spielzeug oder ’n neuen Kratzbaum, oder ’n neuen Korb. Unser Mensch hat die besten Ideen. In den nächsten Wochen spielte unser Mensch mit uns jeden Tag Brekkies finden. Wir hatten ’n Mordsspaß. Manchmal waren’s ’n paar Tage, bis wir an die Brekkies ’rankamen, aber am Ende kriegten wir sie immer. Irgendwann schnallte ich, daß die Tür, durch die der Mensch jeden Morgen verschwand und am Abend mit Beute wiederkam, sich auch aufmachen ließ, und die Welt stand uns offen.
Wir machten ’ne Menge Türen auf und kriegten fürchterlich Schläge von Zeus, dem Nachbarskater, dem es gar nicht paßte, daß wir seinen Futternapf inspizierten.
Aber wir waren jung und gesund und nach ’n paar Tagen wieder voll auf’m Damm.

Unser Mensch ging jetzt abends weg statt morgens, wenn die Vögel sangen, und roch nach Zeug, von dem ich niesen mußte. Er nahm immer ein paar Brekkies mit und brachte sie nicht zurück. „Er hat ’ne andere“, sagte Tully. „Blödsinn“, sagte ich. „Der frißt die selber.“ Tully guckte bedröpst.

Nach ein paar Wochen lud unser Mensch uns in sein Auto, was ich gar nicht mag. Das schaukelt immer so. Wir fuhren viel weiter als bis zum Tierarzt und stiegen an einem Ort aus, den ich nicht kannte, der aber roch wie unser Mensch, wenn er heimkam. Es gab viele Menschen, die alle so gespannt waren wie Katzen vor Mauselöchern und Klamotten trugen, auf denen Katzenhaare richtig gut aussehen. Ich nieste und fing gleich mal an zu haaren. Unser Mensch tigerte davon, ohne sich nach uns umzusehen. Wir also vorsichtig hinterher.
Ein Mensch in schwarzer Kleidung sah mich und hob mich hoch. Ich überlegte, ob ich ihn kratzen sollte, guckte ihn dann aber nur böse an. „Du darfst hier aber nicht rein, Hübscher“, sagte er und trug mich in einen Garten mit Springbrunnen. Er streichelte mir noch mal über den Kopf, ehe er mich runterließ.

Beim zweiten Versuch kam ich auch rein und fand Tully in einer Ecke mit einem Käsebrötchen. Ich guckte mich um. Es war alles sehr seltsam. Bis Tully auf einmal sagte: „Ich riech’ doch Brekkies.“ Ich schnupperte, und er hatte recht. Da war der Geruch von dem Papier, das die Menschen „Mäuse“ nennen und genauso aufregend finden, und der Geruch von Brekkies. Wir folgten ihm, bis zu der besten Tür, die wir je gesehen hatten. Viel, viel größer als alle Türen, die unser Mensch hatte. Die Vorstellung, wie viel Brekkies hinter so ’ner großen Tür sein mußten, ließ mich vor Ehrfurcht erstarren.

Wir brauchten ’ne Woche, um rauszukriegen, wie die Tür aufging. Der Mensch in schwarzer Kleidung nannte mich „Joe“ und gab mir von seinem Schinkenbrot. Das hätte den Coup fast platzen lassen, weil Tully wegen des Schinkenbrots maulte, und ich mußte ihm welche hinter die Ohren geben, damit er seinen Job machte, während ich den Menschen ablenkte.
Als wir die Tür endlich aufhatten, waren dahinter nur Menschen-Papiermäuse. Tully zerfetzte ein paar, um eine Handvoll zerkrümelter Brekkies zu finden, und ich ging zu unserem Menschen, um zu fragen, warum das so war. Unser Mensch knuddelte mich und sagte, Tully und ich seien die besten Katzen der Welt, und ging dann nachsehen, warum da nur so wenige Brekkies waren. Er packte all das Papier in eine große Tüte, fand aber auch keine Brekkies. Wir hauten ab und Tully ließ zum Trost noch’n Käsebrötchen vom Büffet mitgehen.

Am nächsten Tag kriegte ich ’ne klingelnde Plüschmaus und Tully ’n neuen Tigerschwanz, den er knurrend unter’s Sofa verschleppte. Ich brachte unserem Menschen die ganze Nacht die Maus, damit er sie wieder wegwerfen konnte. Es ist unser Lieblingsspiel.

Unser nächster Coup lief genauso glatt wie der erste, auch wenn wieder nur Berge von Mäusepapier hinter der Tür waren und nur ’ne halbe Handvoll Brekkies, und die auch noch staubig. Ich fragte mich langsam, ob unser Mensch für uns die richtigen Türen aussuchte, aber wir kriegten wieder Spielzeug, so war das wohl OK.

Ein paar Tage nach dem dritten Coup, als unser Mensch gerade Kletterseile für uns von einer Wand zur anderen spannte und dabei einen fürchterlichen Lärm machte, kamen böse Menschen in Grün und nahmen unseren Menschen mit. Sie durchsuchten alles und machten so ’ne Unordnung, daß unser Mensch bestimmt mit Streichholzschachteln nach ihnen geworfen hätte, wäre er dagewesen. Wir versteckten uns unterm Sofa und wurden nicht bemerkt.

Unser Mensch kam nicht wieder. Wir hatten genug Brekkies, aber das Katzenklo wurde langsam ekelig und niemand kraulte mich am Bauch. „So geht das nicht“, sagte ich zu Tully. „Wir müssen unseren Menschen finden.“
Tully maulte und wollte nicht. „Wir können auch draußen was verbuddeln“, sagte er. Ich biß ihm ins Ohr, weil er Blödsinn redete, und wir gingen zu unserem Ersatzmenschen. Unser Ersatzmensch begrüßte uns mit „Oh, ihr armen Jungs“ und sagte dann ein paar nicht sehr nette Sachen, als er sah, was wir mit seinem Kühlschrank gemacht hatten, während wir auf ihn gewartet hatten. Deswegen ist er nur unser Ersatzmensch.
Als er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren konnte, kraulte er mich am Bauch, sprach mit so einem Menschenspielzeug und packte uns dann in sein Auto und fuhr zu ’nem Platz mit vielen Türen. Menschen lieben Türen. Unser Ersatzmensch packte Tully und mich in ’nen Einkaufskorb und ging mit uns rein. Drinnen waren viele Menschen in Grün, und mir sträubte sich das Fell. Unser Ersatzmensch begann zu reden. Er sagte oft „ihre armen Katzen“ und „herrenlos“ und „unglücklich“. Ich tat mein Bestes, um sehr unglücklich auszusehen, und weinte sogar ein bißchen. Schließlich lachte einer der Grün-Menschen und ging mit uns und unserem Ersatzmenschen zu unserm Menschen, der hinter noch ’ner Tür war und die nicht aufkriegte. Ich weiß echt nicht, warum Menschen Türen so toll finden und sie dann nich aufkriegen. Andererseits finde ich es toll, in die Badewanne zu fallen, das ist genauso blöd wie’n Mensch, sagt Tully.

„Kriegst du die auf?“ fragte ich Tully.
„Hältst du mich für blöd?“ fragte er zurück.

In der Nacht drauf kletterte Tully zum Fenster von unserm Menschen hoch. Unser Ersatzmensch und ich warteten im Auto. Es paßte mir gar nicht, hier rumzulungern und zu warten, aber das war kein Job für eine weiße Katze. Unser Ersatzmensch redete mit mir, und ich putzte mich.

Endlich tauchte Tully mit unserm Menschen auf. Wir fuhren wieder weg, erst mit dem Ersatzmenschen, dann mit unserem. Wir fuhren weiter und weiter, hielten manchmal an, um Grillen und Eidechsen zu jagen, und jedesmal, wenn wir ausstiegen, schien die Sonne heller. Dann fuhren wir mit etwas, das fürchterlich wackelte und wo es Vögel gab, die aussahen, als würden sie Katzen fressen, und weiter, bis wir zu einem großen Haus kamen, wo alle Türen offen waren.

Da leben wir jetzt, Tully, ich und unser Mensch. Es gibt hier ganz viele Plätze, wo man in der Sonne dösen kann. Tully hat angefangen, echte Mäuse zu fangen. Ich find’ das eklig. Grillen sind viel spaßiger. Unser Mensch bleibt jeden Tag bis zum Mittag im Bett und krault mir jeden Abend den Bauch. Und das Katzenklo ist immer picobello.

Ingeborg Denner
aus: Luftruinen-Ausgabe 10, Winter 2010/11