emiliano zapata in chiapas

(gewidmet den indigenas, nicht nur in mexico)

die
die sagen
es herrschen
ruhe und ordnung
im land

meinen
die ruhe
auf dem friedhof
und
die ordnung
in den massengräbern

die
die sagen
die lage normalisiert sich

meinen
es ist normal
menschen
zu demütigen
ins elend zu werfen
in den müll zu jagen
ihre herzen auszureißen
ihre münder vollzustopfen
mit staub und
scheiße und
schlamm und
nicht zuletzt leeren versprechungen und
nicht etwa mit brot und
dem geschmack der freiheit
zu versöhnen –

die
die sagen
sie verfolgen hehre ziele

meinen
die menschen
die sie verfolgen
vertreiben
verhaften
foltern
morden

die
die sagen

es herrschen
ruhe im land
und wieder frieden
und ordnung noch

vergessen

es ist
die ruhe vor dem sturm
es wird
der frieden kommen
in dem
ihre ordnung ruht

in diesem frieden

pedro leum
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

In einem land vor gewerkschaft und lohn

In einem land vor gewerkschaft und lohn
einem land mit eisenarmierung
in so einer zone Pedro erlebt
der mensch seine wiedervertierung
Da bist du kein einziger Pietro mehr
da karrt man dich hin in partien
Du bist an den subunternehmer verkauft
und an das gastland verliehen

Monatelang im container zu zwölf
du hörst nur auf deinen polier
In einer kassette liegt dein paß
und die schuldverschreibung nach hier
Kommt geld bei deiner familie an?
wo willst du hin ohne paß?
was steht da wenn ’s fertig ist? dümmer als wind
ein weiterer hohlraum ist das

Einmal im monat kommt lou mit dem bus
Hast du schon pause Piet?
ziehn ab ob du dran warst oder nicht
Was da das mädchen von sieht
Du denkst du kommst nie mehr nach hause Pierre
und nie mehr aus schulden zu lohn
und nachts schreckst du auf schreist containerblech an
im alptraum von nassem beton

Und ist er fertiggegossen der bau
seht ihr die rostroten strähnen?
nach wenigen regen schon wie ein fluch:
das sind Pjotrs tränen
Kräne mischer gebläse beton
gestalten abdämmgewölle
Das ist Europas geldverbrennwelt
vor unsern augen die hölle

HEL
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

Blau und weiß

für Europa

Muß ich deinen Boden
mit fremden blauen Füßen betreten?
Muß ich mit
gefrorenen Knöcheln
an deine Tür klopfen?
Muß ich mein ersterbendes
Geschrei inmitten
des Schnees ausstoßen,
damit du mich für einige Sekunden
eintreten läßt in dein Königreich,
Wunder in verbotenen
Vitrinen erspähen läßt,
und deine prächtigen Kinder,
die schon gefrühstückt
zur Schule gehen?

ich ersticke
in diesem Container
wir sind viele
ich erfriere
habe keine Schuhe
habe kein Hemd
bin nackt

schau mich an Europa
die Lippen aufgeplatzt
vor Erschöpfung
vor Hunger
vor Kälte

eingefroren

„es reicht mir nicht“
sagst du mir am Feuer sitzend
hinter der Doppelverglasung
während du mich zittern siehst
ohne Schuhe
nackt
im Schnee

nichts habe ich,
reicht dir das nicht?
ach ja,
deine unendliche Barmherzigkeit
reicht aus
um mich ins Krankenhaus zu schicken
einige Tage bis
meine Füße aufgetaut sind
und ich stehenbleiben kann
um deine Fragen zu beantworten
und morgen steckst du mich
betäubt gefesselt
in ein Flugzeug
zur Rückkehr in meine Vergangenheit
ohne Zukunft

in was hast du dich verwandelt
Europa?

schau mich gut an,
erkennst du mich nicht wieder?
ich bin derselbe der
in deinen Ferien
diese köstlichen Gerichte kocht
die du deinen Freunden zeigst
auf Dias nach deiner Rückkehr
der mit dem Knoblauch, den leckeren
Gewürzen,
den frischen Fisch
serviere ich dir am Ufer
meines Meeres,
der, der dich im Boot mitnimmt
um die Grotten zu besuchen
der mit dem Lachen
der mit der einfachen Pension
der mit dem schönen und preiswerten Kunsthandwerk
das seit Jahrhunderten die Leute
in meinem Dörfchen herstellen,
warum erkennst du mich nicht
wenn du dort glücklich bist
und dein Lachen dann
alles überflutet?
wie kannst du dich
so verändern?
fast erkenne ich dich nicht wieder
in deinem Hochmut

aber wozu sage ich dir
diese Dinge
wenn du mich sowieso
sterben lassen wirst,
du wirst mich sterben lassen
und wirst sagen es war meine Schuld
und wie es mir einfalle
mich auszuziehen
der Schuhe zu entledigen
inmitten des Schnees
vor deinem Fenster
deinem Sessel deinem Ofen
deiner Ästhetik

gib es zu
ja, gib es zu,
ich zerstöre deine Ästhetik
mit meiner Armut
er ist so weiß dein Schnee
und da komme ich ihn zu beschmutzen
mit meinen nackten
blauen Füßen

trotzdem
nachdem du mich
zur Rückkehr gezwungen hast
werde ich es wieder sein
der Olivenöl auf
deinen Salat tut
neben dem Schafskäse
den Oliven und dem Fisch
nächsten Sommer
unter den Sternen
am Ufer des Meeres
nachdem du
die ganze Mittagssonne
getrunken hast

ich werde derjenige sein der die
einfachen Laken wechselt
des Bettes in dem du ruhst
mitten zwischen meiner Sonne
meinen Leuten
meiner Armut
was deine Kamera wieder
exotisch finden wird
und dein Lachen wird alles feiern
und du wirst wieder glücklich sein
wie immer,
und wirst so tun als ob
du mich nie
gesehen hättest
mit meinen nackten
blauen Füßen
in deinem
so weißen Schnee

Isabel Lipthay

Übersetzung aus dem Spanischen: Martin Firgau
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010

TERROR & SPIELE. Der internationale Fußball als Laufsteg der Demagogen

Dienstag, 11.10.2011. Die deutsche Fußballnationalmannschaft hat heute auch das zehnte und letzte Qualifikationsspiel für die Fußball-EM im nächsten Jahr gewonnen und wird ab dem 08.06.2012 in Polen und der Ukraine um den Europameistertitel spielen.
Knapp sechs Stunden vor dem Anpfiff wurde in eben dieser Ukraine die ehemalige Ministerpräsidentin und jetzige Oppositionsführerin Julia Timoschenko wegen angeblicher Selbstbereicherung an Regierungsgeschäften während ihrer Amtszeit zu sieben Jahren Haft verurteilt. – Ein Schauprozess, vergleichbar dem gegen Alexander Chodorkowsky in Russland, der einzig dazu dient, jede Form von Opposition gegen die herrschende Regierungsklasse durch Einschüchterung im Keim zu ersticken.
Die Ukraine: Ein ehemaliger UdSSR-Satellitenstaat, der wie das große Brüderchen nebenan politisch immer noch auf den Spuren Stalins wandelt, obwohl man sich nach außen hin gern mit demokratisch-parlamentaristischen Federn schmückt.
Da passt die Faust mehr als nur aufs Auge, dass die Fußball-WM 2018 in Russland ausgetragen wird. Der internationale Fußball als Plattform für verhuschte Diktaturen. Das ist mal neu. Danke, FIFA, danke, Sepp Blatter.
Dass die Nationalmannschaft von – sagen wir – Nordkorea am internationalen Wettbewerb teilnimmt, bezeichnet ein Entgegenkommen von beiden Seiten: Der eine lässt spielen; und der andere spielt mit. Nordkorea als „Fußballnation“ beugt sich – Politik zuhause hin oder her – den Regeln der Welt.
Wenn jedoch ein diktatorisches Regime mit der Auszeichnung geadelt wird, diese Spiele ausrichten zu dürfen, spielen alle Spieler immer auch für eben dieses Regime. Es gibt Leute, die behaupten, die Ausrichtung eines internationalen Spektakels wie der Fußball-EM in einem demagogisch regierten Land könne dazu dienlich sein, dieses dem Westen und seinem Verständnis von Demokratie gegenüber ein Stück weit zu öffnen. Denkfehler dabei: Das Land – als Mehrheit der Bevölkerung – steht uns zumindest in der Ukraine hochgradig offen gegenüber. Wer hier blockt, ist die Machtelite. Und die interessiert nur der Erhalt der eigenen totalen Macht. Mittel egal. Und wo und wann soll eine solche Machtelite schon mal mit den Mitteln des Sports „bekehrt“ worden sein? Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin? Oder denen 2008 in China? Stattdessen wird auch in der Ukraine einem Regime eine Bühne zur Selbstdarstellung geboten, dem man vernünftigerweise jede Möglichkeit der Profilierung versagen sollte. Von den Milliarden Euro, die nebenbei in die Staatskasse fließen, ganz zu schweigen. Genauso ist es dummes Geschwätz zu behaupten, ein Medienereignis wie die EM richte die Blicke der ganzen Welt auf das Land und trage dazu bei, die dortigen Missstände ans Licht der internationalen Öffentlichkeit zu zerren. Als ob die mich interessieren, wenn ich mit Chips und Bier vor der Glotze sitze und Schweinsteiger und Co. gewinnen sehen will. Und wenn doch mal kritisch hinter die Kulissen geschaut wird. – Nach drei Wochen ist eh alles wieder vorbei. Dann sind die Reporter mit ihren Kameras und Laptops wieder weg. Wenn der Spielvergabe der FIFA eine solche Denke zugrunde läge, hätte man die WM 1990 in Ruanda austragen lassen müssen.
Die EM in der Ukraine wird stattfinden, so viel ist sicher. Selbst wenn dort in der Zwischenzeit ein Bürgerkrieg wie der in Libyen gegen Gaddafi ausbricht. Dafür hängt zu viel Kohle an der ganzen Sache. Aber schöner, besser, freier, gerechter – das alles wird das Land nur durch eine starke Opposition. Und zu dieser tragen der europäische Fußball und die verantwortlichen Entscheidungsträger nicht nur bei der FIFA sicher nicht bei, wenn sie die Tyrannen hofieren und ihre militärische Aufrüstung finanzieren.
Kann man in den nächsten sieben Jahren nochmal drüber nachdenken. Dann geht´s nach Moskau. Dort heißt der Präsident dann wieder Putin. Demokratisch wiedergewählt. Ist schon ausgemacht.

Robert Martschinke

VERTIGO oder: Mondo bulimia (September 2011)

here we are now
entertain us
Nirvana

06.09.2011
In Münster ist die Hölle los. Grund: ein just erschienener Roman, in dem eine fiktive Reinemachfrau über ihr fiktives Liebesverhältnis zum heiligen Kardinal von Galen berichtet. Das Bistum ruft auf zur großen Bücherverbrennung auf dem Domplatz. Der klerikale Ekel ist nachvollziehbar. Die Reinemachfrau ist doch bestimmt schon mindestens zwölf.
Das ist für professionelle Jesus-Jünger ja schon Oma-Sex.

11.09.2011
Große Jubiläumsparty in New York. Ex-Präsident Adolf Bush und sein ansonsten völlig inkompetenter Nachfolger erneuern ihren vaterländischen Schwur, Gottes Willen zu erfüllen und alles Unamerikanische vom Erdboden zu tilgen, so es denn der Erdölförderung im Wege steht. Die haben wenigstens noch Ideale. Es lebe die Freiheit.

18.09.2011
Landtagswahlen in Berlin. Das Schönste sind die blassen Fressen von Rösler, Lindner und Co. (Nach Westerwelle fragt schon lange keiner mehr.) 1,8 (in Worten: einskommaacht) Prozent. Seit der NSDAP nach 1945 ist keine deutsche Regierungspartei in der Wählergunst so abgestürzt; und trotzdem an der Regierung geblieben. Respekt. Und die FDP muss sich diesmal nicht mal umbenennen. Geht auch gar nicht. „CDU“ gibt´s ja schon…

19.09.2011
Nachdem die FDP bei den Landtagswahlen in der Bundeshauptstadt ein letztes Mal Gelegenheit bekommen hat, ihre Bedeutuungslosigkeit zu unterstreichen, fordert Sozenoberplautze Sigmar Gabriel nun Neuwahlen auf Bundesebene.
Ihr seid sooo langweilig. So brechreizerregend langweilig und vorhersehbar. Zieh´ dich aus und wackel´ mit den Titten, Siggi. Vielleicht zieht die Merkel ja nach. Zuzutrauen ist es ihr. Für Deutschland. Für die Menschen. Und vielleicht ist dann tatsächlich mal irgendwo ´n Unterschied zwischen euch erkennbar. Und sei´s auch nur, was die Behaarung angeht.

20.09.2011
Münster ist nicht nur die lebenswerteste Stadt der Welt, sondern auch die leiseste in NRW. Sagt zumindest die Statistik. Zumindest so lange keine Romane über Kardinal von Galen erscheinen. Und uns Omma keine Kohlsuppe mit Zwiebeln zu Mittag hatte…

22.09.2011
1 Uhr MESZ. Das kranke Verhältnis zur eigenen Sexualität zwingt die Amis erneut, einen Neger zu töten. (Ne, nicht Obama. Der ist schon tot.) Troy Davis hat angeblich einen weißen (!) Polizisten erschossen. Im Jahr, als der antikapitalistische Schutzwall fiel. Die dem Gericht vorliegenden „Beweise“ sind ein einziger Witz. Seitdem hat Davis in der Todeszelle gesessen. 12 Quadratmeter, voll einsehbar, Waschbecken, Schreibtisch, Bett, Klo. 22 Jahre.
Definiere „Westliche Zivilisation“.

***

Josef Ratzinger, oberster römischer Hassprediger, darf jetzt auch auf der Giftmülldeponie der bundesdeutschen Demokratie seinen demagogischen frauen-, lesben-, schwulen- und feindlichen Schwachsinn verbreiten. Dreck und Dreck im trauten Stelldichein. Immerhin: Einen, der Stimmen hört, die ihm sagen, dass man für das Benutzen von Kondomen in die Hölle kommt, hatten wir schon lange nicht mehr im Bundestag. Für gewöhnlich landet so was hierzulande in der Geschlossenen. Toll, wie tolerant wir mittlerweile sind. Ratze, anal bis ins Mark, mault, dass die Religion den Menschen heutzutage am Arsch vorbeigeht. Uns kann er damit nicht meinen. Wir sind seit über 25 Jahren treuer Jünger des 1. FC Köln. Was wir in der Zeit allerdings erleiden mussten, dagegen war die Passion Christi ´ne flockige Wellness-Behandlung.

23.09.2011
Texas schafft als erster US-Bundesstaat die sog. „Henkersmahlzeit“ ab. Wer in Zukunft vom Staat ermordet wird, kriegt vorher das gleiche zu fressen wie alle anderen Gefangenen auch. Konsequent. Eigentlich sollte man ihnen 24 Stunden vorher gar nichts mehr zu fressen geben. Erstens ist Fasten gesund; und vielleicht scheißen sie dann bei der Exekution auch nicht ständig den Stahltisch voll, auf dem sie totgespritzt werden.

24.09.2011
Von wegen: Fernsehen macht blöd. Volker Pispers zum Beispiel. Erkenntnis, nachdem man solchen Typen mal zehn Minuten lang zugehört hat: Ohne das Merkel-, Westerwelle- und Ratzegeschmeiss wären diese sog. „Kabarettisten“ gezwungen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Sieht man Pispers ja schon am Ranzen an, dass er da herzlich wenig Bock drauf hat. Dann lieber heimlich FDP wählen, damit sie ihm als Thema erhalten bleiben. Klar. Würd´ ich genauso machen. Irgendwoher müssen die Liberalen ja auch in Berlin auf ihre 1,8 Prozentpunkte gekommen sein.

27.09.2011
Angela Merkel bescheinigt Phillip Rösler ein (Zitat) „hohes Stehvermögen“. – Ja, ne. Ist aber bestimmt ein nützlicher Gedanke, wenn der Arzt beim nächsten Rundumcheck ´ne Kotzprobe haben will.

28.09.2011
Es ist vollbracht! Das EU-Parlament beschließt, dass in Zukunft Finanztransaktionsgeschäfte versteuert werden müssen. Und das nicht zu knapp. Auf Gewinne aus dem Handel mit Hedgefonds etwa fallen dann 0,1 Promille Steuern an. Die Finanzbranche lacht sich schlapp. Da lohnt sich nichtmal Steuerhinterziehung.
Hitler sind wir los. Dafür haben wir jetzt ein kapitalistisches Regime, das in Sachen Verlogenheit den Nazis in nichts nachsteht. Kosteneffiziente Modifikation: Statt in Auschwitz Zyklon B zu verschwenden, lassen wir einfach in Afrika ein paar Millionen Menschen an Hunger und Seuchen zugrunde gehen. Thinking global. Am Finanzwesen wird die Welt genesen. Heil Euro.

30.09.2011
Zwei Journalisten des SPIEGEL haben herausgefunden, dass Doktor Josef Ackermann jahrelang keine Hundesteuer für Pinscher-Dame Merkel gezahlt hat. Jetzt droht Ackermann eine Anklage wegen Steuerhinterziehung. Besonders prekär: Sollte Ackermann zur Nachzahlung der Steuer verurteilt werden, sehen Börsenexperten die Weltwirtschaft endgültig am Abgrund. Die beiden SPIEGEL-Reporter sind bis auf weiteres beurlaubt.

Robert Martschinke
wird zur Zeit nicht in der Printausgabe veröffentlicht

Aus gegebenem Anlaß: Das Feuer und das Wort. Offener Brief an Berthold Brecht.

Lieber Berthold Brecht,

dieses eine Mal in Santiago, erinnerst du dich? Während sie, die immer Gleichen, ihre Arbeit als Brandstifter gegen das Papier und die Buchstaben verrichteten… während sie mit ihren Gewehren die Bücher in den Scheiterhaufen im Hof meines Hauses stapelten… dieses eine Mal in Santiago 1973, ich, geduckte Gestalt voller Angst, dachte an dich.

Die Buchrücken verbrannten geschwind in jenem düsteren Frühling; die Blätter knisterten, die Gesichter auf den Fotos verzerrten sich; der Rauch war unerträglich blau und schwarz…
Sie und wir, wir und sie schrieen in verschiedenen Tonlagen, schrieen… und die Feuer brannten, im Hof durch ihre Stiefel noch verstärkt, durch ihre Waffen, unsere Bücher, unsere Dokumente und Liebesbriefe… Sogar die Marx Brothers verbrannten.

Die Soldaten brüllten Schimpfworte und Verfluchungen. Wir mit unserer endlosen Angst, in die Brandherde zu fallen und in das Labyrinth verborgener Kerker der Folter, des Verschwindens, des Wahnsinns.

Ich konnte nicht von ihnen fordern, dass sie meine Bücher verbrannten, wie du es getan hattest, Berthold, weil ich noch keines geschrieben hatte. Ich war kaum eine Studentin im Fach Journalismus, die gerade begonnen hatte, vor dem Entsetzen, das sie erlebte, ihren Verstand im Schreiben zu schärfen.

Unter dem Bett von Alcibiades, aus meiner Wohngemeinschaft, fanden sie die riesigen Bände von „Das Kapital“, danach wusste ich nichts mehr von ihm. Die letzte Spur seines Lebens waren seine Bücher gewesen, die im Hof meines Hauses in der Septemberhölle verbrannt wurden.

Monate später, als Überlebende des Brandes unserer Existenz, traf ich Alcibiades mit seinem ewigen großen Lächeln unter dem Schnurrbart – auf irgendeiner Straße von Buenos Aires, wo ich – in einem Lastwagen versteckt – landete. Ich hatte geglaubt, er wäre schon tot, wie so viele andere Bekannte, die umgekommen oder verschwunden waren.

Zu jener Zeit war Argentinien noch ein freies Land, bis drei Jahre danach die Bücher und die Freigeister mit der gleichen Brutalität wie in Chile und wie in deinem Deutschland damals, Berthold, verbrennen sollten. Und der Diktator Videla äußerte im Fernsehen in Bezug auf die Vermissten: „Es bleibt ein Rätsel. Er ist ein ‚desaparecido’, hat keine Identität, ist einfach nicht da, weder als Lebender noch als Toter, er ist ‚verschwunden’.“

Ich schreibe dir diesen Brief aus Kalifornien im Jahre 2008, während Bush und seine Komplizen die Worte und den Geist von Irak verbrennen, dieses Feuer, das nie zu Ende geht in der Geschichte der Schande.

Eine unsägliche Angst vor den Worten haben sie, diese Mörder aller Freuden!
Alter Berthold, danke, dass du uns daran erinnerst. Auf Wiedersehen, bis wir uns im Paradies der Worte wiedertreffen werden.

Isabel Lipthay
Aus dem Spanischen übersetzt von
Dr. Pilar Baumeister

Isabel Lipthay ist eine chilenische Autorin und Sängerin. Sie floh vor der politischen Verfolgung durch die Pinochet-Diktatur und lebt in Münster.
www.contraviento.de

aus der Luftruinen-Ausgabe 4, Frühling 2009

VERTIGO spin-off: Die Schlümpfe in: AUSGESCHLUMPFT. Ein Energiewirtschaftsmärchen.

Das Atomkraftwerk von Schlumpfhausen ist explodiert. Na so was. Über Nacht sind alle Schlümpfe grün geworden und leuchten im Dunkeln. Manche Schlümpfe sind sogar schon grüner als das Laub der Schlumpfhausener Dorfeiche. Nur der Atomstromschlumpf will nicht so richtig grün werden. Au backe. Abweichler mögen die Schlümpfe so gar nicht. Bei ihnen soll immer alles schön einheitlich sein. Schlau wie die Schlümpfe nun mal sind, verpassen sie dem Atomstromschlumpf eine Terawattladung Ökostrom. Da zappelt der Atomstromschlumpf und wird im Nu so richtig schön leuchtend grün. Das liest sich als Pressemitteilung im Wirtschaftsteil dann beispielsweise so:

Montag, 05.09.2011
Die Presseabteilung von RWE meldet, dass der Konzern den Bau von zwei neuen Windparks in NRW plant.
Der Ex-Atomstrom-Monopolist macht sich ans Ökostrom-Monopol. Merkste was? Jürgen „Wehret den Anfängen einer Öko-Diktatur!“ Grossmann wird wahrscheinlich Manager des Jahres. Wenn der so weitermacht, wird er noch Bundeskanzler.

Robert Martschinke
zur Zeit nicht in der Printausgabe veröffentlicht

VERTIGO oder: Nach der Sommerpause ist vor der Sommerpause.

Sonntag, 08.05.2011
Jetzt zeigt sich, was in islamischen Ländern abgeht, wenn der Diktator weg ist und die demokratische Freiheit sich entfaltet: In Ägypten brennen die ersten christlichen Kirchen. Das sieht in der Glotze dann aus wie Reichskristallnacht reloaded mit Turbannazis. Spassfaktor: Geht so.

Donnerstag, 26.05.2011
Die Jungs vom Fach vom Universitätsklinikum Münster haben rausgefunden, dass EHEC, nach Rinderwahn, Geflügelpest und Schweinegrippe der neueste Grund zur öffentlichen Panikattacke, dass EHEC also von spanischen Salatgurken kommt.
Dass mir das mal nicht die nächste Schwulenpest wird.

Dienstag, 31.05.2011
Deutschland knippst die AKWs aus. Jürgen Grossmann, Chefpenunzensauger bei RWE, wittert prompt den Aufzug einer „Ökodiktatur“. – Klingt wie Hitler, der vor der moralischen Verkommenheit des Stalinismus´ warnt. Allerdings ungleich schlaffer. Eigentlich komisch. Jetzt wo die Merkel ihn nicht mehr regelmäßig in den Mund nimmt…

Mittwoch, 29.06.2011
Plassberg, ARD, Thema: PID. Präimplantationsdiagnostik. Peter Hintze ist voll dagegen.
Wär´ ich an seiner Stelle auch.

Donnerstag, 11.08.2011
Schluss mit Sommerpause. Jetzt geht auch in England das Volk auf die Straße. Die Aufnahmen von Jugendlichen, die sich mit vermummten Bullen prügeln und Autos in Brand stecken, könnten auch aus Syrien, Ägypten, Tunesien, dem Jemen, Griechenland, Portugal oder Spanien stammen. Premier Cameron hat heute angekündigt, „zur Not“ auch die Armee gegen das eigene Volk einzusetzen.
Hausaufgabe: Definiere Diktator.

Freitag, 12.08.2011
Bundeswirtschaftsminister Brüderle (FDP) kritisiert den massiven Stellenabbau beim Energiekonzern EON. Seiner Ansicht nach habe es das Unternehmen versäumt, sich zeitnah auf dem Markt für erneuerbare Energien zu etablieren.
Das sagt einer, der seiner Klientel noch vor knapp einem Jahr eine Laufzeitverlängerung für ihre AKWs bis zum Jahr 2035 ins Gesetzbuch geschrieben hat.
Hausaufgabe: Definiere Verlogenheit.

Sonntag, 14.08.2011
Bundesentwicklungsminister Niebel (FDP) lehnt eine Aufstockung der Hilfe für Afrika ab. Zitat: „Es geht nicht darum, Menschen kurzfristig vor dem Verhungern zu retten.“ Worum es stattdessen geht, sagt er nicht. Braucht er auch gar nicht.
Hausaufgabe: Definiere menschenverachtendes Stück Scheiße.

Sonntag, 21.08.2011
Die NATO-Truppen in Libyen haben Gaddafi festgenommen. Jetzt soll er sich vor dem EU-Gerichtshof in Den Haag wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verantworten.
Da fremdschämt man sich jahrzehntelang für die verlogenenen Amis, die erst Saddam Hussein installieren, dann jahrelang töfte Geschäfte mit ihm machen und – als er droht, den Ölhahn zuzudrehen – als bösen Menschenfresser zum Abschuss freigeben. Und nun macht´s die EU mit Gaddafi genauso. Auch der hat nämlich gedroht, seine Pipelines trocken zu legen. Und steht nach Jahren der blühenden Geschäftsbeziehungen (auch mit Frau Merkel persönlich) nun plötzlich wegen Folter und Mord vor Gericht. Damit hat sich Brüssel nach der „Euro-Rettungsschirm“ genannten Mästung der internationalen Finanzmärkte nochmals selbst übertroffen. Mittlerweile schämt man sich nicht mehr nur, Deutscher zu sein; mittlerweile schämt man sich schon für diesen ganzen Kontinent.
Manchmal ein mittleres Wunder, dass man sich noch nicht für die ganze Welt schämt. Ist wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit.

Montag, 22.08.2011
Top-Nachrichtenmeldung des Tages: Gaddafi ist doch nicht festgenommen worden.
Kein Kommentar.

Dienstag, 23.08.2011
Neben Berlin und Hamburg werden nun auch in Düsseldorf vermehrt Autos abgefackelt. Das kurbelt nachhaltig die Binnennachfrage nach dem deutschen Exportschlager Nr. 1 an. Bravo, ihr pyromanen Antikapitalisten.

Montag, 29.08.2011
Guido Westerwelle ist auf dem Sprung. Einer der lächerlichsten und gefährlichsten (Diese beiden Eigenschaften bedingen einander in dieser Berufsgruppe offenbar gegenseitig.) Politiker der bundesrepublikanischen Geschichte steht – deutet man die Zeichen richtig – kurz davor, auch vom letzten ihm verbliebenen Amt, dem des Bundesaußenministers, zurückzutreten. Beziehungsweise zurückgetreten zu werden. Freiwillig ist noch keiner aus der Politik ausgeschieden.
Dass einem Kapital-Feudalisten wie Westerwelle, der die Mehrheit seiner Mitbürger für lebensunwerte Schmarotzer hält und der mit seiner Klientel-Politik der „Demokratie“ in Deutschland in den letzten zwei Jahren wahrscheinlich mehr Schaden zugefügt hat als NPD und Linke zusammen (wofür wir ihm von Herzen danken), und dem naturgemäß nicht daran gelegen sein konnte, gegen einen Diktator wie Muammar Gaddafi aufzutreten, der zwar sein eigenes Volk bestialisch zerfleischt, mit dem sich jedoch hervorragend Geschäfte machen lassen, dass dem gerade letztere Haltung letztendlich das politische Rückgrat bricht. – Das ist – mit Verlaub – dann doch zum Lachen.
Die schwarz-gelbe Koalition indes wird auch an Westerwelles Rücktritt vom Amt des Außenministers ebensowenig zerbrechen wie an allen anderen Rücktritten, die sie bisher verkraften musste. Warum auch? Es gibt nur einen Politiker, auf den sie nimmer verzichten könnte: Angela Merkel. Und die ist mit beiden Arschbacken an ihrem Stuhl festgetackert.

Donnerstag, 01.09.2011
Libyen ist offiziell „befreit“; jetzt geht das Rattenrennen los: Wer darf sich beim „Wiederaufbau“ des Landes dumm und dämlich verdienen? Im Irakkrieg durften die Europäer zwar mitkämpfen, letztendlich wurde das Land jedoch unter U.S.-amerikanischen Großkonzernen aufgeteilt. Desto schärfer ist „Die Alte Welt“ jetzt auf alles, was in, aus und mit Libyen zu holen ist. Um das auszuhandeln, haben Wirtschaftsvertreter von über 60 Nationen aktuell in Paris getagt. (Als sog. „Geberkonferenz“. – Scheisse…) Ergebnis: Obwohl Kanzlerin Merkel den Libyern jede nur erdenkliche „Hilfe“ anbietet, wollen die lieber mit den Franzosen Geschäfte machen. Könnte an Merkels verlogener Fresse liegen. Könnte aber auch am (nicht nur von ihm selbst) falsch verstandenen Pazifismus des damaligen Bundesaußenministers Westerwelle liegen. Tja, Frau Merkel. Wieder wirtschaftspolitisch versagt. Müssen deine Vorgesetzten aus den Führungsetagen der DAX-Unternehmen sich auch weiterhin darauf beschränken, dein Stimmvieh auszubeuten. Sag´ mal: Wie verkauft man das dem Pöbel?
Egal. Ich würd´ übrigens auch keine Geschäfte mit Ihnen machen, Frau Bundeskanzlerin. Da käme nichts bei raus. Wir bescheissen beide wie die Juden.

Freitag, 02.09.2011
Griechenland, mittlerweile bis zum Erbrechen mit „Hilfsgeldern“ gemästet, kommt wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig. Anscheinend kann man sich ´ne funktionierende Wirtschaft nicht einfach so kaufen…

Samstag, 03.09.2011
In Libyen beginnt alldieweil nach erfolgreicher Revolution das Große Reinmachen. Bei solchen Gelegenheiten kommen gern mal Sauereien ans Licht, die das Vorgängerregime nicht umsonst unter den Palastteppich gekehrt hat. Zum Beispiel, dass der amerikanische Geheimdienst jahrzehntelang prima mit der Gaddafi-Mafia zusammengearbeitet hat, nicht nur wenn´s darum ging, vermeintliche Terroristen in aller Ruhe zu Tode foltern zu können. Finden die Libyer im Allgemeinen nicht so toll. Wenn die wüßten, wer schon alles mit Muammar im Zelt gesessen und Kamelstutenmilch gesoffen hat. Die würden die NATO-Truppen ganz schnell wieder rausschmeissen…
In Bochum marschieren alldieweil die Nazis auf. Da prügeln die hundertfach aufgefahrenen Polizeikader naturgemäß lieber auf die Gegendemonstranten ein. Gleichzeitig berschwören Politiker (fast) aller Lager ihr Stimmvieh, bei der anstehenden Landtagswahl in Meck-Pomm diesmal nicht wieder so viel die Nazis zu wählen. Heuchelei und Verlogenheit pur. Kühne Idee: Die Nazis wählen, bis sie die Republik übernehmen. Die Nazis den parlamentarisch gestützten Kapital-Feudalismus abschaffen lassen. Und dann die Nazis abschaffen.
Die dämlichen Faschos instrumentalisieren und danach entsorgen. Warum eigentlich nicht? Für irgendwas müssen die doch zu gebrauchen sein.

Sonntag, 04.09.2011
Meck-Pomm hat gewählt. Die FDP hat mit 2,7 (in Worten: zweikommasieben) Prozent nicht mal halb so viele Stimmen bekommen wie die Nazis. Ist zumindest schon mal eine von den beiden Spinnertruppen erledigt.

Montag, 05.09.2011
Zum Zehnjährigen am nächsten Sonntag warnt Innenminister Friedrich mal wieder vor erhöhter Terrorgefahr in Deutschland. Zu recht: Der Terror, wenn die Politprominenz zu solchen Jahretagen vor die Mikrophone tritt und den Mund aufmacht, ist in der Tat bestialisch.

Robert Martschinke
zur Zeit nicht in der Printausgabe veröffentlicht

Sommerabend

letzte Sonnenstrahlen
überlassen der grünen Abendkühle
den kleinen Park

vor dem Eisengitter
wildes, hohes, struppiges Gras
ahnt Taunässe
streckt sich danach

die Bäume warten
wie Wächter
auf die Nacht

tanken kühles Dunkel

ahnen schon die Hitze
in der der Schatten
Kühle zurück fordert

Herbert Beesten
aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009

Lügenstraße

Diese Straße ist eine Lüge. Sie ist eine alte und etablierte Lüge, sie hat sogar Anerkennung im Stadtplan gefunden und trägt den Namen eines lange toten Bürgermeisters. Aber sie ist eine Lüge. Ich weiß das. Ich lebe hier.
Die Häuserfassaden tragen Zierat des letzten Jahrhunderts. Schilder sprechen von Renovierung, von entstehenden Luxuseigentumswohnungen, aber die Fenster der Häuser, in denen 365 Tage im Jahr kein Hammer und kein Pinsel geschwungen wird, schweigen, zu stolz für die Wahrheit.
Man spricht von guter Nachbarschaft, es gab ein Straßenfest im Sommer. Die Lüge dauert an. Die Leute, wenn sie sich im Treppenhaus treffen, schweigen wie die Fenster. Sie wohnen zu lange hier. Mit den Jahren werden Lügen zu schwer, um sie noch abzuwerfen.
Sie ist keine großartige Lüge, diese Straße, keine Poetenlüge vom Zirkus in der Stadt, von Regenbogenpfaden. Sie ist die Lüge eines ganzen Lebens, die Schlimmste aller Lügen, das Leugnen, das Nichtwissenwollen. Die Schreie nachts in der Wohnung hat niemand gehört. Die Frau, die auf der Straße weinte, hat niemand gesehen. Den Mann, an dessen Händen Blut war, als sie ihn festnahmen, hat niemand gekannt.
Aber man kann nicht so lange lügen, nicht so lange schweigen, ohne daß die lebendige Welt selbst es spürt. Die Straße wird dünner, leichter, an heißen Sommertagen flimmern die Häuser und werden durchsichtig. Geräusche werden von ihnen nicht mehr zurückgeworfen, sie verhallen in der Leere. Taxifahrer finden die Adressen nicht mehr.
Vor hundert Jahren wurden diese Häuser gebaut, aus Gips und Latten, billigen Ziegeln und Stuck. Sie brechen unter den Tritten. Vielleicht lösen sie sich eines Tages ganz auf und verwehen, und die wirkliche Welt wird sie vergessen haben.

Ingeborg Denner
aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009