für Europa
Muß ich deinen Boden
mit fremden blauen Füßen betreten?
Muß ich mit
gefrorenen Knöcheln
an deine Tür klopfen?
Muß ich mein ersterbendes
Geschrei inmitten
des Schnees ausstoßen,
damit du mich für einige Sekunden
eintreten läßt in dein Königreich,
Wunder in verbotenen
Vitrinen erspähen läßt,
und deine prächtigen Kinder,
die schon gefrühstückt
zur Schule gehen?
ich ersticke
in diesem Container
wir sind viele
ich erfriere
habe keine Schuhe
habe kein Hemd
bin nackt
schau mich an Europa
die Lippen aufgeplatzt
vor Erschöpfung
vor Hunger
vor Kälte
eingefroren
„es reicht mir nicht“
sagst du mir am Feuer sitzend
hinter der Doppelverglasung
während du mich zittern siehst
ohne Schuhe
nackt
im Schnee
nichts habe ich,
reicht dir das nicht?
ach ja,
deine unendliche Barmherzigkeit
reicht aus
um mich ins Krankenhaus zu schicken
einige Tage bis
meine Füße aufgetaut sind
und ich stehenbleiben kann
um deine Fragen zu beantworten
und morgen steckst du mich
betäubt gefesselt
in ein Flugzeug
zur Rückkehr in meine Vergangenheit
ohne Zukunft
in was hast du dich verwandelt
Europa?
schau mich gut an,
erkennst du mich nicht wieder?
ich bin derselbe der
in deinen Ferien
diese köstlichen Gerichte kocht
die du deinen Freunden zeigst
auf Dias nach deiner Rückkehr
der mit dem Knoblauch, den leckeren
Gewürzen,
den frischen Fisch
serviere ich dir am Ufer
meines Meeres,
der, der dich im Boot mitnimmt
um die Grotten zu besuchen
der mit dem Lachen
der mit der einfachen Pension
der mit dem schönen und preiswerten Kunsthandwerk
das seit Jahrhunderten die Leute
in meinem Dörfchen herstellen,
warum erkennst du mich nicht
wenn du dort glücklich bist
und dein Lachen dann
alles überflutet?
wie kannst du dich
so verändern?
fast erkenne ich dich nicht wieder
in deinem Hochmut
aber wozu sage ich dir
diese Dinge
wenn du mich sowieso
sterben lassen wirst,
du wirst mich sterben lassen
und wirst sagen es war meine Schuld
und wie es mir einfalle
mich auszuziehen
der Schuhe zu entledigen
inmitten des Schnees
vor deinem Fenster
deinem Sessel deinem Ofen
deiner Ästhetik
gib es zu
ja, gib es zu,
ich zerstöre deine Ästhetik
mit meiner Armut
er ist so weiß dein Schnee
und da komme ich ihn zu beschmutzen
mit meinen nackten
blauen Füßen
trotzdem
nachdem du mich
zur Rückkehr gezwungen hast
werde ich es wieder sein
der Olivenöl auf
deinen Salat tut
neben dem Schafskäse
den Oliven und dem Fisch
nächsten Sommer
unter den Sternen
am Ufer des Meeres
nachdem du
die ganze Mittagssonne
getrunken hast
ich werde derjenige sein der die
einfachen Laken wechselt
des Bettes in dem du ruhst
mitten zwischen meiner Sonne
meinen Leuten
meiner Armut
was deine Kamera wieder
exotisch finden wird
und dein Lachen wird alles feiern
und du wirst wieder glücklich sein
wie immer,
und wirst so tun als ob
du mich nie
gesehen hättest
mit meinen nackten
blauen Füßen
in deinem
so weißen Schnee
Isabel Lipthay
Übersetzung aus dem Spanischen: Martin Firgau
aus der Luftruinen-Ausgabe 9, Sommer 2010