Diese Straße ist eine Lüge. Sie ist eine alte und etablierte Lüge, sie hat sogar Anerkennung im Stadtplan gefunden und trägt den Namen eines lange toten Bürgermeisters. Aber sie ist eine Lüge. Ich weiß das. Ich lebe hier.
Die Häuserfassaden tragen Zierat des letzten Jahrhunderts. Schilder sprechen von Renovierung, von entstehenden Luxuseigentumswohnungen, aber die Fenster der Häuser, in denen 365 Tage im Jahr kein Hammer und kein Pinsel geschwungen wird, schweigen, zu stolz für die Wahrheit.
Man spricht von guter Nachbarschaft, es gab ein Straßenfest im Sommer. Die Lüge dauert an. Die Leute, wenn sie sich im Treppenhaus treffen, schweigen wie die Fenster. Sie wohnen zu lange hier. Mit den Jahren werden Lügen zu schwer, um sie noch abzuwerfen.
Sie ist keine großartige Lüge, diese Straße, keine Poetenlüge vom Zirkus in der Stadt, von Regenbogenpfaden. Sie ist die Lüge eines ganzen Lebens, die Schlimmste aller Lügen, das Leugnen, das Nichtwissenwollen. Die Schreie nachts in der Wohnung hat niemand gehört. Die Frau, die auf der Straße weinte, hat niemand gesehen. Den Mann, an dessen Händen Blut war, als sie ihn festnahmen, hat niemand gekannt.
Aber man kann nicht so lange lügen, nicht so lange schweigen, ohne daß die lebendige Welt selbst es spürt. Die Straße wird dünner, leichter, an heißen Sommertagen flimmern die Häuser und werden durchsichtig. Geräusche werden von ihnen nicht mehr zurückgeworfen, sie verhallen in der Leere. Taxifahrer finden die Adressen nicht mehr.
Vor hundert Jahren wurden diese Häuser gebaut, aus Gips und Latten, billigen Ziegeln und Stuck. Sie brechen unter den Tritten. Vielleicht lösen sie sich eines Tages ganz auf und verwehen, und die wirkliche Welt wird sie vergessen haben.
Ingeborg Denner
aus der Luftruinen-Ausgabe 5, Sommer 2009