„Zukunft auf Tuchfühlung“. Flügge Sätze und unruhige Worte.

Ralf Burnicki und Findus: Hoch lebe sie – die Anarchie! Anarcho-Poetry. Verlag Edition AV, Lich/ Hessen 2014, 50 S., ISBN 978-3-86841-102-7

Wäre Ralf Burnicki Musiker, was er bei der Rhythmik seiner extrem experimentierfreudigen Lyrikprosa durchaus sein könnte, hätte er nun ein Konzeptalbum veröffentlichen können. Außer im sloganhaft daher schlendernden Titel „Hoch lebe sie – die Anarchie!“ reimt sich aber nichts, und das könnte Programm sein, Programm für seine waghalsig und leichtfüßig vorgetragene Anarcho-Poetry. Das Sujet, die Anarchie, findet sich nicht nur in fast jeder Kapitelüberschrift wieder, Ausnahmen bilden die märchenhafte Kapitalismuskritik „Der Chefteddy“ und der spannende „Countdown“, sondern in gleichberechtigt mäandernden, umstürzenden Satzneubauten. Hier werden Sätze flügge, und Worte begeben sich in äußerst belebende Unruhezustände, die eine hoffnungsfrohe Utopie verheißen, ohne zu erkalten. Burnickis Texte sind von beispielloser Bildhaftigkeit und einer einzigartigen Brillianz, die ihn über die gewöhnliche Politlyrikproduktion hinaus von tagesaktueller Versklavung befreien. Er testet aus, sprengt Genregrenzen, bereichert beredt, erweitert den Sprachschatz, hebt ihn, erhebt ihn, assoziiert Ungewöhnliches ins freie Radikale.
Der Anarchie, die in „Anarchie jetzt!“ „Zukunft auf Tuchfühlung“ und das „Organisationskomitee des Horizonts“, der „Zweitwohnsitz“ von Ideen ist, schreibt Burnicki eingangs einen Liebesbrief, so warm, daß man wünschte, es wäre eine lebendige Person. Da heißt es: „Abends gibst du den Trostlosigkeiten dieser Welt unter Verwendung von Papiertüten ein Konzert, und in der Nacht versuchst du heimlich, den täglichen Hass von der Leitplanke zu kratzen, verwandelst Zäune oder Grenzen in heiße Luft, füllst einen Luftballon, der in die Fressnäpfe unserer Unterwürfigkeiten pupst.“ Und wenig später: „… wir steigen ein in Atemzüge, um die Welt von den Schienen zu blasen, so geht Geschichte in Zukunft über.“
Burnicki liefert ein Antidot zu fragwürdigen Gewissheiten und scheinbaren Selbstverständlichkeiten, dagegen, daß „die Sonne auf dem Dienstweg daher kommt und die Nachmittage Verzichtserkläungen gleichen“ („Warum Anarchie?“), dagegen, daß man „wegen Unfallgefahr vor jeden Zweifel ein Warndreieck aufstellen“ muß, dagegen, daß „keine Freudentänzer mehr von Balkonen winken, weil der Sommer sich im Tränengas vergeigt“ („Countdown“).
Tätlich unterzeichnet vom graswurzelrevolutionären Findus, hat Burnickis poetische Flugschrift eigentlich nur einen kritikwürdigen Mangel: Sie ist zu kurz. Gerne läse man zahlreichere Texte dieser unvergleichlichen, wortwörtlich erlesenen Güte. Jeder einzelne davon hätte, auf einer Kundgebung verteilt, die Kraft, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Das Buch könnte auch im hosentaschenkompatibleren Reclamheftformat erscheinen, auf daß man es bei direkten Aktionen zivilen Ungehorsams und infolge etwaiger Sanktion seitens staatlicher Repressionsorgane in Gewahrsam genommen, aber freigeistig zur persönlichen wie kollektiven Erbauung rezitieren vermag. Hoffen wir mit Burnicki, daß seine Worte „Wurzeln [schlagen] in der aufgebrochenen Zeit“ und sich die Hoffnungen „gegenseitig eine bessere Welt ausgeben“ („Countdown“), daß „die Welt die Erinnerung ausziehen [wird], dass einmal Regierungen und Grenzen die Menschen zu trennen wagten“ („Wenn die Anarchie ausbricht“). Dann „wachsen Sätze in Freiheit heran, steigen neue Erfahrungen aus dem Zuge, nehmen den Sonnenaufgang mit all ihrem Glücksanhang und sämtlichen Nebenwirkungen“; dann „schmecken Tage nach Licht“ (ebd.); wenn „die Sehnsucht sich von ihren Trägheiten befreit“ und das „für eine Idee, die die Menschen großschreibt“ („Die anarchistische Nacht“). Dann „tanzt unser Zorn Richtung Morgen, dem unser Gelächter vor die Füße spuckt, weil der mit seinen Halbwahrheiten protzt. Und obwohl sich Wolken auf unsere Hoffnungen stürzen, halten wir an unserem Unmut fest und werfen unseren eigenen Sturm in die Welt, aus der in diesem Moment eine neue entsteht“ (ebd.). Hoffen wir es, wenn sie freilich so reichhaltig wäre wie Burnickis Sprache.

Jörg Siegert
erschienen in der „graswurzelrevolution“-Ausgabe 398, April 2015