Die Zeit heilt keine Wunden, von: Lukas Sparenborg

Ich war ein ganz gewöhnliches Kind, hatte Mutter und Vater. Genoss eine gute Schulausbildung, alles war perfekt. Idylle, nichts konnte mein Weltbild erschüttern, dachte ich.
Wir fuhren gerne in den Urlaub auf die Inseln, ich liebte das Meer und die Ruhe.

Doch als sie meinen Vater in den Krieg sandten, wusste ich nicht, was das bedeuten sollte.
Tag ein, tag aus warteten wir auf ihn. Meine Mutter, meine Schwester, ich.
Wir lasen die Zeitung und hofften. Und wir wussten ja nicht, was das für uns bedeuten sollte.
Meine Mutter war eine großartige Frau, nunmehr war sie aber krank. Krank vor Leid, krank vor Schmerzen. Sie wusste, was da draußen vorgeht.

Meine Mutter ging zu Grunde, aber sie spielte für uns die gute Mutter.
Sie versuchte alles so zu erhalten, wie wir es gewohnt waren. Aber sie wusste, dass da draußen Krieg herrschte, dass da draußen unschuldige Menschen starben.

Er war da draußen mit seinen Kameraden, er schoss auf Menschen, denen es eigentlich genauso ging wie ihm. Doch sie waren Feinde. Also sollten sie sterben, sterben, damit dieser Krieg schnell vorbei sein würde.
Mein Vater wurde zum Mörder und wurde dafür doch als Held gefeiert.
Der Krieg fraß ihn und seine Kameraden.
Für keinen von ihnen sollte der Krieg je vorbeigehen.
Nachts im Lager schliefen sie nicht, drückten sie auch nur ein Auge zu, hörten sie die Schreie der Menschen immer wieder.

Mein Vater sandte uns Briefe, jede Woche. Genau genommen schrieb er jedes Mal zwei Briefe. Einen an meine Schwester und mich und einen an unsere Mutter.
Uns schrieb er immer, dass er bald Heim kommen würde, der Krieg bald zu Ende sei und wir noch einmal ans Meer führen, noch einmal alle zusammen an einem Tisch säßen, er würde noch einmal mit mir am Strand entlang laufen, wir würden noch einmal Eis essen und noch einmal die Stille genießen.
Meiner Mutter schrieb er, dass der Krieg ihn verschlingen würde – auf kurz oder lang.
Er erzählte, man habe ihn angeschossen und er hat nichts mehr gehofft, als zu sterben.
Er schrieb, er glaube, das Einzige, was ihm am Leben halte, wäre seine Liebe zu ihr und seinen Kindern.

Und meine Schwester und ich wussten doch nicht, was das bedeuten sollte.
Geblendet von den optimistischen Briefen, die uns unser Vater schickte, lebten wir voller Hoffnungen, auch wenn wir langsam an unserer Mutter erkannten, wie kaputt der Krieg machte. Uns alle.

Eines Tages entdeckte ich einen Brief meines Vaters an meine Mutter.
Ich verstand zum ersten Mal wirklich, was es bedeutete, einen Vater im Krieg zu haben.
Ich wusste, dass dieser Krieg für keinen von uns je vorbei gehen würde.

Und irgendwann kamen keine Briefe mehr, keine Lebenszeichen von meinem Vater.
Und dann kamen sie.
Wenige Tage später standen Beamte vor der Tür.
Sie baten meine Mutter, auf ein Gespräch hineinkommen zu dürfen. Meine Mutter wusste, was geschehen war.
Meine Schwester und ich lauerten an der Tür und wir hörten Wortfetzen der Beamten und das laute Weinen unserer Mutter.

Die Beamten gingen und ließen meine Mutter auf dem Boden liegen, vollkommen aufgelöst, wir stürmten rein, ebenfalls weinend, fragend, was denn passiert sei.

„Euer Vater, er ist gestorben, er ist gefallen im Krieg…“, sagte unsere Mutter und nahm uns in den Arm.
Meine Schwester und ich wussten, seitdem wir den Brief unseres Vaters gelesen hatten, dass da draußen Menschen starben, aber wir konnten nicht begreifen, dass auch wir nun Waisen waren.

Der Krieg machte uns arm. Arm und kalt.
Unser Vater war doch nur einer von vielen, die gefallen waren.
Nicht mal eine Beerdigung war uns vergönnt, starb er doch in Gefangenschaft.

Unserer Mutter konnte nunmehr nicht die starke Mutter sein, sie versank weiter im Schmerz, verfiel dem Alkohol, der ihre Wunden vorerst zu stillen vermochte.
Wir erkannten: Auch die Zeit würde diese Wunden nicht heilen. Der Krieg hatte uns gezeichnet, die Narbe, die sich nicht sichtbar in unsere Seele brannte, blieb.
Und wir träumten doch immer davon, noch einmal unseren Vater, unseren Mann in den Arm zu nehmen, noch einmal in den Urlaub zu fahren.
Und inzwischen hasste ich die Stille.
Nach den Kriegen zählt man stets den materiellen Verlust, aber nicht die gestorbenen Träume.

Und wir wussten, dass der Krieg niemals vorbei sein wird.
Nicht für uns.
Nicht für die, die der Krieg mit sich zog.

Lukas Sparenborg