Das Leben vor dem Tod, von: Björn Reinhardt

Das Feld ist riesig. Von einem Ende kann man das andere nicht mehr sehen und das, obwohl es so flach gelegen ist, fast eben. Die Sonne hebt sich langsam über die vom Morgentau getränkte Wiese. Es ist so still. Zwei Männer stehen sich gegenüber. Mit ernstem Ausdruck und unterdrücktem Puls prallen ihre Blicke aufeinander. „Weißt du, warum wir sterben müssen?“, fragt der eine.

Der Andere fängt an zu grübeln. Seit er denken konnte, bestand sein Leben aus Dingen, die er erreichen wollte. Groß und stark wollte er werden. Und schlau. Ja, der Schlauste wollte er sein. Ein Buch schreiben, das die Welt verändert. Jetzt denkt er: Vielleicht könnte ich tatsächlich ein Buch schreiben, welches die Welt verändert, würde nur zuvor jemand ein Buch schreiben, das die Menschen verändert.

Aber es ging ihm eigentlich nie wirklich darum, die Menschen zu verändern. Er wollte lediglich bedeuten. Jemand sein, den die Menschen verehren. Ein Held, eine Legende.

Ihm wird mulmig. Er formuliert vorsichtig, seine Antwort soll vernünftig klingen. „Es gibt so viele Dinge, die ich in meinem Leben nicht mehr erreichen kann, obwohl ich sie mir irgendwann mal vorgenommen hatte! Ich werde nie die Philosophie revolutionieren, weil ich, ehrlich gesagt, ein ziemlicher Idiot bin. Auch den Mond werde ich wohl nie betreten, weil ich zu alt und fett bin, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Zur Sonne werde ich niemals fliegen, einfach weil das wohl keine besonders gute Idee von mir war. Ich kann mich damit sehr viel besser abfinden, als ich es erwartet hatte, denn weißt du: Es gab einen Tag in meinem Leben, da hatte ich tatsächlich ein Ziel erreicht.
Das Gefühl war erhebend. Für einen Moment. Willst du wissen, was ich dann getan habe? Willst du es wirklich wissen? Ich habe meine Zielsetzung erhöht. Ich wollte mehr.

Es ist doch so: Ob ich nun bedeute oder nicht, ob auf Seide oder Staub: Irgendwann höre ich auf zu atmen…

Wusstest du, dass das Gehirn noch Minuten nach dem letzten Atemzug Signale produziert? Was heißt das für mich? Spüre ich noch? Spüre ich das Verlangen nach Luft, kann meinen Brustkorb aber nicht mehr heben? Kann ich mich nicht einfach ausschalten? Zuende sein? Stell dir vor, ich bleibe in meinem Körper. Und die Menschen, sie betrauern dich vielleicht. Du bedeutest. Und gerade weil du ihnen so bedeutest, stecken sie dich in eine Kiste und lassen dich in eine Grube hinab und du liegst da und hörst, wie sie Schaufel für Schaufel mehr Erde auf dich kippen, bis irgendwann soviel Erde auf dir liegst, dass niemand mehr aus eigener Kraft hinauskommen könnte.

Hast du Platzangst? Stell dir vor, du hättest Platzangst. Diese Kiste, sie ist so klein… Und irgendwann kommen Würmer und krabbeln auf dir rum, bevor sie anfangen, dich zu beißen, und du liegst nur da und erlebst, wie du gefressen wirst, während keine 20 Meter von dir eine Schule ihre Pforten für den gewohnten Tagesablauf öffnet.

Oder lässt du dich einäschern? Stell dir vor, du müsstest es erleben! Wieder liegst du in dieser Kiste und sie schieben dich in dieses Ding und plötzlich kommt das Feuer. Überall Flammen um dich herum. Alles schmilzt, sogar deine Gedanken, noch während du vor Höllenqualen schreist. OH MEIN GOTT, ICH HABE SO ANGST! … Ich habe so Angst… so Angst…“
Er ist erschöpft. Zu Beginn seines Monologes noch von der Überzeugung besessen, dass er seine Antwort sinnvoll zu Ende bringen könnte, fühlt er sich jetzt leer und unfähig. Er muss eingestehen:

„Tut mir leid, ich weiß nicht, warum wir sterben müssen.“

Sein Gegenüber hat seine Starre nie aufgegeben. Jetzt aber öffnet er in einer minimalistischen Bewegung seinen Mund und gibt ihm die Antwort selber:

„Wir müssen sterben, weil wir vorne stehen.“

Im nächsten Moment ertönt das Horn und jeder der Männer zückt sein Schwert. Die Feldherren stehen an den Enden des Feldes und schreien über ihre Heere hinweg. Die beiden Männer rennen los. Ihre Schwerter bohren sich in je des anderen Hals. Der Andere röchelt in das Ohr seines Gegenübers: „Warum haben wir uns dann nach vorne gestellt?“

Sein Gegenüber hat seine Starre jetzt aufgegeben. Er weint, wenn auch nicht vor Schmerzen.
„Weil hinten nur die Feldherren stehen, mein Freund, weil hinten nur die Feldherren stehen…“

Björn Reinhardt