Aviator. Ein Porträt, von: Robert Martschinke

Von einem bestimmten, nicht vorhersehbaren Zeitpunkt an betreiben vornehmlich jüngere Menschen, solche gegen die Fünfunddreißig gehende, eine Idee und treiben diese Idee so weit, bis die Idee verwirklicht und sie selbst getötet sind durch diese verwirklichte Idee, sagte ich.

Thomas Bernhard, Korrektur

Sie sagt, sie kann fliegen. Lockert die Schultern. Schlägt mit den Flügeln. Ledrig und feucht.
Legt den Kopf in den Nacken. Bläst Rauch zur Zimmerdecke.
Wenn es vorbei ist, sagt sie, wenn es vollbracht ist, fliegen wir weg, weit weg, weg von diesem Scheißplaneten.
Ans Mittelmeer. Oder in die Karibik.
Wenn es vorbei ist, sagt sie, fliegen wir direkt in die Sonne. Schließt die Augen. Legt den Kopf in den Nacken.
Sie kann eine Maschine besorgen. Klein, wendig. Den Radar unterfliegen. Es gibt keine Irrwege, sagt sie. Es gibt nur Wege.
Angst zerstört alles.
Schaut in die Runde. Sagt: Frag’ nicht, was dein Land dir antun kann; frag’, was du deinem Land antun kannst.
Du. Ja, du. Komm’ her. Hast du Hunger? Hier. Nimm. Wie heißt du?
Ihr Name ist Melanie. Klein. Mager. Augen wie Glas. Verschlissene Jeans. Schwarze Lederjacke. Barfuß. Sie sagt: Krebs. Eine einzige mutierte Zelle reicht aus, den gesamten Organismus zu vernichten. Ihn sich selbst vernichten zu lassen. Bläst Rauch zur Zimmerdecke. Zuckt mit den Schultern. Grinst. Aus ihrer Nase tropft Blut. Sie drückt ihre Zigarette aus. Eine Handbreit neben dem Aschenbecher auf der Papiertischdecke. Legt den Kopf in den Nacken. Schließt die Augen.

Sagt: Feuer. Alle Tiere haben Angst vor Feuer. Zündet sich eine Zigarette an.
Jemand flüstert: Feuer zerstört alles. Sie schüttelt den Kopf. Schließt die Augen. Lächelt: Nein.
Bläst Rauch zur Zimmerdecke.
Feuer reinigt.
Wenn man den Stall sauberkriegen will, müssen als erstes die Schweine raus.
Verstehst du?

Manche sagen, sie sei ein Genie. Andere sagen, sie sei wahnsinnig. Es soll welche geben, die sagen, es gebe sie gar nicht.
Die kleine Abstellkammer, hinten im Werkraum, hinter den Toiletten. Desinfektionsmittel von vor dreißig Jahren.
An der Rückwand eine mit rostroter Farbe bespritzte schwarz-rot-goldene Fahne. Dahinter ein Durchlass in der Mauer. Eine stählerne Wendeltreppe abwärts. Kein Licht außer der Taschenlampe. Das Geländer rostig, rissig, gesprungen. Jede dritte Stufe fehlt.
Ein Tunnelgang. Das Blut von den Handflächen lecken. Rotbemalte Glühbirnen an den nackten Betonwänden. Wo sich Gänge kreuzen, biegen wir nach links ab. Wieder und wieder. Eine Einkreisung.
Eine graugestrichene Stahltür. Darauf ein gelbes Plastikschild: Vorsicht Hochspannung. Daneben ein roter Blitz.

Sie sagt: Zerstörung ist die Voraussetzung für Erneuerung. Nur auf dem Nährboden der Zersetzung kann Neues gedeihen. Nur frische Asche dünkt den Acker. Sie lächelt. Lacht. Legt den Kopf in den Nacken. Sagt: Scheiße. Lacht. Ich hör’ mich an wie das beschissene Buch Jesaja. Schüttelt den Kopf. Sagt: Gott.
Betet für ihn; denn er weiß nicht, was er tut.

Nachts die Schreie und der Regen. Lautlos flackerndes Blau draußen vorm Fenster. In Würfel geschnitten an der Zimmerdecke. Sie sagt: Leben, das ist laut schreien, während man träumt.
Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, versuche ich, die Luft anzuhalten, bis ich das Bewußtsein verliere.
Und?
Nein.

DER TRAUM

Zweihundertachtzig Kanister Kerosin. Direkt unter dem Heizraum. Ein analoger Wecker als Zeitzünder. Eine Mausefalle, die zuschnappt. Ein Feuerstein, zwei Funken. Der Schwefel von dreitausend Streichholzköpfen als Brandbeschleuniger, abgeschabt mit dem Daumennagel.
Früher war das hier angeblich eine Kaserne. Reichswehr. Luftwaffe. Air Berlin.
Sie sagt: Die Ersten sind auch immer die Letzten. Ein Revolutionär, sagt sie, zündet sich eine Zigarette an, ein Revolutionär, der die Revolution überlebt, ist ein Relikt.
Der Revolutionär ist die Leiter, über die die Revolution aufsteigt. Legt den Kopf in den Nacken. Bläst Rauch zur Zimmerdecke.
Und wenn sie oben angekommen ist, die Revolution, wirft sie sie um, die Leiter.
Weg.
Schließt die Augen.
Der Spätsommerhimmel hat die Farbe von rohem Fleisch.

Ihr Name ist Melanie. Ihre Augen sind weder grün noch blau noch braun. Wie buntes Glas.
Wir fliegen, der Sonne entgegen, dem Himmel, der Leere, dem Nichts.

CODA

September, Herbstmond, die Sichel neigt sich; Flugzeuge fliegen in Türme.
Sie liest aus dem Matthäus-Evangelium: Ihr werdet von Kriegen hören, und Nachrichten über Kriege werden euch beunruhigen. Gebt acht, laßt euch nicht erschrecken! Das muß geschehen…

… Wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt.
Drückt ihre Zigarette aus. Eine Handbreit neben dem Aschenbecher auf der Papiertischdecke. Aus ihrer Nase tropft Blut. Sie lächelt.
Der Anfall dauert siebzehn Sekunden. Sie verletzt drei Pfleger und zwei Mitpatienten. Beim Versuch, sie zu fixieren, brechen sie ihr zwei Rippen und den linken Unterarm.

Es gibt keine Irrwege; es gibt nur Wege. Angst zerstört alles.
Sie haben Gabeln; sie haben Messer. Scharfgefeilte Löffel. Sie sind bereit. Warten auf das Zeichen.

Sie legt den Kopf in den Nacken.
Spuckt Blut zur Zimmerdecke.
Schließt die Augen.
Lächelt.

Die Uhr tickt.

Robert Martschinke