StadtChronologie, von: Mirko Stauch

Alte Männer steigen in die Bahn, der eine, auf Kinder deutend: „Die zählen die Jahre bis zur Volljährigkeit. Wir zählen unsere Tage.“
Auf der Straße einige Möbel, darunter ein Bücherregal, das mein Chaos aufnehmen könnte, der Versuch zur Verwaltung, zur Ordnung. Daneben fegt ein Mann die Tankstelle. Vor mir sitzt eine junge Frau, sehr weibliche, vielleicht sogar erotische Formen. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Die Kinder, die jetzt nicht zählen, schreien. Der eine Alte blickt den anderen Alten an und schüttelt den Kopf, in Richtung der Kinder nickt dann der erste. Ich sitze daneben und schreibe alles auf. Alles ist stereotyp und billig. Auch das Gefühl von schleichender Angst. Es nervt. Lesen nervt nicht, schreiben auch nicht.
Der Hunger nervt. Das Atmen nervt. Denken ist entnervend. Wo steht der Satz, in dem ein Schüler fragt, wer den Flug der Vögel kontrolliert. Eine alte Frau schiebt ihren Rollstuhl vor sich hin, ihren eigenen. Mit dabei ist der haltungsgebende Versuch, Würde zu bewahren in der Hinfälligkeit. Ich bin froh um jede Nachricht, die mich nicht erreicht. Im Stillen bleibt der Traum von der Überwindung aller Klischees und das letzte Déjà vu. Was sollen DAS für WORTE sein, die sie dort sprechen, tagelang. Im Credo seltener Metaphern reißen sich die Lemuren um Bargeld. Ich weiß nicht, ob ich mir einen Sinn kaufen soll. Es liegt an mir.

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Durch die Städte geht niemand mehr, nicht der, der übrigbleiben sollte, der Wind. Vor uns ging, eine Zeitlang, der, der keinen Namen trug. Nach uns kam, nichts Nennenswertes. Wir gingen unbeteiligt durch die Städte, eine Tasche unter dem Arm, darin ein schwarzes Brot und eine Flasche Schnaps. Wir versteckten uns in den Ecken und warteten, dass etwas geschehe. Wir wussten nichts. Wir warteten.
Es kamen Menschen und sie sahen uns nicht, weil wir es so wollten. Und sie hörten uns nicht, weil wir nichts sagten. Wir nahmen nicht teil. Wenn die Menschen dastanden und sich ansahen, was ein Verkehrsunfall übrig ließ, gingen wir vorüber wie der Wind und nahmen nicht Anteil daran. Wir verweigerten die Auskunft nach einer Straße oder dem Weg zu einem Ort. Wir drehten uns weg und gingen. Wir verhielten uns still. Eine Stadt war wie alle anderen. Wir beachteten die Häuser nicht, auch nicht die Menschen, nicht die Plätze, Kirchen, Museen, Rathäuser, Bahnhöfe, Geschäfte, nichts. Wir gingen vorüber wie der Wind. Wir blieben nicht an einem Ort, jeder Ort war so gut wie der andere. Wir schliefen überall, aßen, was übrig blieb, und wuschen uns in Brunnen. Es gab keinen Anfang des Weges, wir haben es nicht gesehen, wir können nichts dazu sagen. Wir wissen: Die Städte werden leer sein, der Wind wird verschwunden sein und nach uns kommen wird nichts Nennenswertes.

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Die Himmel schwimmen eisgrau, grau unendlich und verlangen nach Andacht und Demut. Ich habe dich sterben sehen, nicht auf einem Bild und nicht in deinen Texten. Ich habe dich sterben sehen. Die Furcht vor dem Dazwischen teilte ich mit dir, die Stille zwischen den Wörtern und den Atempausen. Die Ahnung sah ich durch deine Augen. Ohne Illusion, ohne Utopie, aber ich habe dich nach der Zukunft gefragt. Irgendwo willst du deine Antwort versteckt haben, zwischen den Zeilen willst du etwas über Hoffnung geschrieben haben. Ich übersehe sie vielleicht. Oder du hast uns alle betrogen. Ich habe dich sterben sehen. In der Nacht hörte ich deine Trauer wie einen Gesang durch die Mauern kriechen hinein in meinen Schlaf. Ich weiß, der Stachel in deiner Seele bin ich. Und das Messer an deinem Hals. Das Gift in deinen Adern, das Gas aus dem Herd, der Strick um den Hals, das bin ich. Es gibt keinen Engel, der dich berührt. Du wirst bald still sein, ich habe dich sterben sehen. Über das Leiden soll nicht gesprochen werden. Kein Wort über den Sturm, nichts über das, was danach kommen soll. Kein Wort davon. Verbannt das Leiden aus meinem Umkreis. Keine Erinnerung daran: Ebnet das Grab ein, Friedhöfe sollen Felder werden. Die Sonne sei uns Zeichen. Die Nacht sollen wir verfluchen. Das Sterben sei zu Ende. So dachte ich auf der Fahrt zum Krankenhaus, nachts, in dem du zum Sterben gebracht wurdest, nach einer unbekannten Anzahl Schlaftabletten.

Mirko Stauch