Das Ende, von: Marian Heuser

Heute morgen schellte es zu einer unmöglichen Uhrzeit. Ich schlurfte verpennt in den Flur und öffnete gähnend die Tür. Vor mir stand eine hagere männliche Gestalt, dem ersten Blick nach zu urteilen etwa Mitte 40, mit besorgtem Blick.
„Was ’n los?“ murmelte ich verschlafen und er antwortete: „Das Ende ist nah.“
Eigentlich hatte ich keine Lust auf verballerte Spinner, die mir in aller Herrgottsfrühe meinen Morgen madig machen wollten, aber die Leere in seinem alles durchdringenden Blick hielt mich auf magische Weise davon ab, die Tür wieder zu zuknallen. Wortlos reichte er mir eine kleine Broschüre, den Blick immer noch starr und leer auf mich gerichtet. Ich wollte das Übliche von mir geben, sowas wie „Unterschreibe nix“, „Kaufe nichts an der Tür“, „Waschmaschine hab ich schon“ oder „Bin Student. Ich geh selber betteln“, aber er drehte sich einfach um und ging so unvermittelt, wie er gekommen war.
Achselzuckend schloss ich die Tür. Weil ich jetzt schon mal aufgestanden war, nutzte ich den Schwung für einen ausgedehnten Toilettengang und blätterte gähnend in dem Heft. Es verkündete das Ende der Welt und nannte als Hauptgrund die zu häufige Verwendung des Wortes „Ende“ in unserer heutigen Zeit. Eine Art „selffullfilling prophecy“ so zu sagen. „Kranker Scheiß“, dachte ich und legte das Heft wieder beiseite. Ich schlurfte zurück ins Schlafzimmer und fiel sofort in einen komatösen Schlaf. Drei Stunden später holte mich der Radiowecker wieder zurück.

Ich fühlte mich seltsam und zuckte innerlich zusammen, als die mir vertraute Radiostimme sagte: „Tausende Angestellte vor dem Ende.“ Ich schaltete in einer Art Reflex um. „Tausende Fans betrauern das Ende einer Ära.“ Ich schaltete erneut um. „ Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“ – Scheiße! WDR 4! Und dann auch noch dieses Lied… Ich schlurfte in die Küche. Ich wollte schön nen heißen Kaffee trinken und auf andere Gedanken kommen, doch mir kam die Zeitung dazwischen. Sie verkündete „ Das Ende des Wohlstandes“, denn „ein Ende der Finanzkrise“ sei noch nicht absehbar. Ablenken! Weg von diesen Deprimedien! Ich schaltete den Fernseher ein. „Das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Nordkorea schürt die Ängste vor einem Atomkrieg.“ – „Na Bombe…“ Ich schaltete die Flimmerkiste aus und entsorgte die Fernbedienung umgehend im Hausmüll. Durchatmen! Ich schlürfte meinen Kaffee und starrte die Wand an. Kann man eigentlich irgendein Medium konsumieren, ohne sofort mit dem Weltuntergang konfrontiert zu werden? Ich widmete mich der Tagespost, weil ich da das Risiko für am geringsten hielt – doch denkste!
Zuerst fiel mir eine Karte in die Hände. „Viele Grüße vom Ende der Welt“ stand da. – Haha, sollte wohl lustig sein. Dann plötzlich ein Brief von meiner Freundin.
„Beziehung ist am Ende… Schlussstrich… Nicht endlos quälen“ stand da. Mir wurde schlecht. Hatte das Heftchen im Bad am Ende doch recht?
Es schien so und plötzlich war mir alles egal.

Als erstes rief ich meinen Chef an und sagte ihm, dass ich seine dämliche Visage noch nie leiden konnte. Er reagierte aufgrund derartiger Ehrlichkeit zunächst gar nicht, sammelte sich lange und sprach dann vom „sofortigen Ende meines Arbeitsvertrages“. „Na und?“ rief ich. „Das Ende ist nah!“
Danach klingelte ich bei meiner hübschen Nachbarin und fragte sie, ob wir, anstatt uns wieder im Flur über Belanglosigkeiten auszutauschen, nicht auch endlich mal vögeln könnten. Sie reagierte reserviert und murmelte, mit Blick auf meinen erigierten Penis, irgend etwas von „pervers“, „Freund, der bei der Polizei arbeitet“ und „Ende der respektvollen Nachbarschaft“. Mir war das einerlei.
„Das Ende ist nah!“ brüllte ich, als sie mir die Tür vor der Nase zuschlug. Ich stürmte zurück in meine Wohnung und nahm sie erstmal gepflegt auseinander. Das Rentnerpaar von nebenan schrie mir über ihren Balkon zu, dass ich irre sei und sie am Ende nicht davor zurückschrecken würden, die Polizei zu rufen.
„Was macht das schon? Das Ende ist nah!“ rief ich zurück und mein Blick fiel auf mein zertrümmertes Schnapsregal. Genauer gesagt auf das Einzige, das meinen Wutanfall wie durch ein Wunder überlebt hatte. Eine Flasche Strohrum. Feuerwasser mit 80 Umdrehungen… Trinken? Aber sicher, denn das Ende ist nah.
Etwa eine Minute nach Exen der Flasche stürmte ich ins Treppenhaus, das ich inzwischen für die Toilette hielt. Ich beugte mich schwungvoll über die Brüstung und übergab mich drei Stockwerke in die Tiefe, ehe ich bewusstlos zusammensackte.

Ich erwachte am nächsten Morgen, als mein Vermieter und der hagere Mann vom Vortag auf mich herab schauten. Mein Vermieter sprach vom sofortigen Ende des Mietvertrages und der hagere Typ grinste über beide Ohren. Er kniete sich vor mir nieder und sagte mir, mit diabolischem Funkeln in den Augen, dass er meinen Job bekommen habe und nun mit meiner Exfreundin in meine alte Wohnung einziehen würde. Ich starrte ihn wie benommen an und atmete schwer. „Aber… aber ich dachte… ich dachte, das Ende wär’ nah“, rang ich nach Worten. Die Augen des hageren Mannes begannen noch mehr zu glänzen und lächelnd sprach er: „Oh, das ist es ja auch, aber bitte nicht so voreilig. Du wirst dich ja wohl noch ein ganz kleines bisschen gedulden können.“

–Ende–

Marian Heuser