Danke für’s Versagen…, von: Sybille Lengauer

Verheult saß sie im Bus und fuhr nach Hause. Die Schule war endlich vorbei und sie war froh, dass niemand in ihre Richtung fuhr. So rümpften nur unbekannte Gesichter die Nasen, als sie ihren speckigen Pullover zum wiederholten Mal als Taschentuch benutzte. Natürlich, man hätte ihr auch ein Taschentuch anbieten können, aber angeekelt die Nase rümpfen lag den Leuten näher als ein freundschaftliches Angebot.
Versagt. Das hatte sie. Schon wieder, wieder, wieder. Und deswegen saß sie jetzt auch hier im stickigen Bus, anstatt in der Stadt auf ihren Sieg zu trinken.
Selbstverständlich hätte sie mit den anderen fahren, sich an deren Erfolg erfreuen und einen kleinen Toast ausbringen können. Aber dazu fehlte ihr die Energie.
Wie oft hatte sie es nun schon versucht, wie häufig war sie schon gescheitert? Schulisch, kreativ, menschlich? Sie brach den Versuch ab, ihr Versagen aufzuzählen, und rotzte herzhaft in ihren krustigen Ärmel.

„Auf jeden Sieger kommen hundert Verlierer und noch einmal tausend Versager, die es gar nicht erst versucht haben!“
Hatte die beste Freundin ihr noch zugeflüstert, bevor die drei Finalisten des Lyrikwettbewerbes heute morgen in der Aula verkündet worden waren. Trotzdem traf es sie unendlich hart, als ihr Name nicht genannt wurde. Sie war so sicher gewesen. So unglaublich… naiv.
Ja, es war schlicht Naivität, die sie immer noch glauben machte, Menschen würden sich für ihre Gedanken, ihre Sicht der Dinge interessieren. Es war Naivität, die sie an jedem Talentwettbewerb, an jeder Ausschreibung teilnehmen ließ. Die sie schreiben ließ, trotz all der Absagen, trotz all der wohlgemeinten Schulterklopfer von den „Kollegen“, die es geschafft hatten.
Doch diese Naivität war heute morgen zerbrochen, als sie die Finalisten auf der Bühne stehen sah. Stolz, schüchtern, applausumtost. Zum wievielten Mal noch gleich?

In diesem Moment fühlte sie ein kleines Sterben in ihrer Seele und wusste, dass nichts mehr sein würde wie früher.
Klar und deutlich konnte sie ihr Versagen vor sich ausgebreitet sehen. Eine fahlgraue Kriechspur des letzten Platzes, die sich durch ihr Leben zog.
Sie hatte mit Mühe ihre Tränen zurückgehalten, war auf der Toilette verschwunden und hatte dort ein Spülbecken eingetreten. Das war erzdämlich, aber der einzige Weg, ihren Gefühlen angemessen Ausdruck zu verleihen. Natürlich schmerzte ihr Bein danach höllisch, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, den Schmerz verdient zu haben. Das würde einen blauen Fleck sondergleichen geben. Gut so!

Das Gehirn im Leerlauf, hatte sie den Rest des Tages verbracht. Auf Fragen geantwortet, ein kleines Lächeln im wachsweißen Gesicht. Den Freunden zum Abschied zugenickt, ein weiteres Lächeln und dann war sie im Bus verschwunden, um Rotz und Wasser zu heulen.

„I hate myself and I wanna die“, murmelte sie leise, als sie an ihrer gewohnten Haltestelle ausstieg und die Haustür aufschloss. Zum Glück war niemand zu Hause. Das gab ihr die Gelegenheit zu handeln.
Ruhig zog sie ihre Jacke aus, hängte sie an den Haken im Vorzimmer, ging in die Küche und füllte einen Krug mit Leitungswasser. Dann öffnete sie den kleinen Schrank im Badezimmer und holte die Hausapotheke ihrer Mutter hervor.
Ein wirrer Schachtelhaufen blickte ihr entgegen. Genau das Richtige.
Fast schon beschwingt trug sie die Schachteln ins Esszimmer, stellte den Wasserkrug und ein Glas bereit und begann systematisch, die Tabletten aus den Verpackungen zu pressen. Eine nach der anderen. Schließlich ragte ein kleiner Tablettenberg vor ihr auf.

„Ein kleiner Haufen Tabletten gegen einen großen Haufen Gefühle“, sagte sie laut in die Stille des Raumes und kam sich dabei ein bisschen dämlich vor. Kurzentschlossen nahm sie eine Handvoll Pillen und schob sie in ihren Mund.
Die anfängliche Süße begann sich schnell in leichte Bitterkeit zu verwandeln und so trank sie einen Schluck Wasser hinterher.
Stück für Stück reduzierte sie den Tablettenberg, nahm Aspirin und Kreislaufpillen, Tabletten für den Schlaf, Tabletten gegen die Reisekrankheit, nahm alles, was ihre Mutter im Lauf von Jahren angehäuft hatte. Ablaufdatum uninteressant.

Als sie fertig war, ging sie zurück ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Ein rotgeheultes, pummeliges Gesicht sah ihr entgegen. Die Leute sagten immer, ohne den Babyspeck würde sie bestimmt gut aussehen, aber sie hatte das mit dem Babyspeck nie geglaubt. Mit zwölf ließ man sich gewisse Dinge einfach nicht mehr erzählen!
Beleidigt streckte sie die Zunge heraus und wunderte sich über die weiße Farbe auf den Pupillen. Kam das von den Tabletten? Wirkten die schon? Wie lange dauerte das eigentlich, bis man… verstarb?

„Lange genug, um noch einen Abschiedsbrief zu schreiben“, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, einen sauberen Abschiedsbrief mit einem großen „Mir Reicht Es!“ oder „Leckt mich!“ Nein, das war zu platt. „Genug Ist Genug!“ Genau. Das traf die Sache im Kern. Also kritzelte sie die Worte auf ein Blatt Papier, legte dieses säuberlich gefaltet auf den Küchentisch und sich selbst ins Bett. Zeit, um zu sterben.

Die Minuten vergingen, verwandelten sich in eine halbe Stunde, eine Stunde… Wie lange dauert das eigentlich WIRKLICH, bis man verstirbt?!
Langsam machte sie sich leichte Sorgen. Sie stand auf, ging zum Küchentisch und betrachtete den Zettel. „Genug Ist Genug!“ Saublöd eigentlich. Bekümmert warf sie den Abschiedsbrief in den Müll. Lieber doch ohne Worte sterben.

Eine leichte Mulmigkeit begann sich in ihrem Körper auszubreiten. Aha, jetzt fing es also an. Schnell huschte sie zurück ins Bett, breitete die Decke sorgfältig über sich und wartete. Wartete. Die Mulmigkeit verwandelte sich langsam in Übelkeit. Ein ekelhaft bitterer Geschmack stieg ihre Kehle empor. Verdammt, so hatte sie es sich nicht vorgestellt!

Die Hände vor den Mund gepresst lief sie zur Toilette und kam gerade noch rechtzeitig, um einen Schwall grünlicher Masse auf den geblümten Badezimmerteppich zu verteilen. Scheiße!

Tief über die Schüssel gebeugt gab sie alle Tabletten wieder, die sie vor gefühlten Stunden in sich hineingefressen hatte. Schließlich konnte sie nur noch Galle hervorwürgen, aber die wollte nicht aufhören hochzukommen.

Mitten in ihr Elend hinein hörte sie einen Schlüssel im Schloss. Ihre Mutter kam von der Arbeit nach Hause, abgespannt. Hundemüde. Und anstelle einer toten würde sie eine kotzgrüne Tochter vorfinden. Verdammt, verdammt, verdammt. So hätte das nicht laufen dürfen! Sie hatte versagt. Schon wieder versagt!!!

* * *

Als sie auf der Bühne stand und den Applaus genoss, lief ein kleiner Schauer über ihren Rücken. Sie blickte auf und im Zuschauerraum saß plötzlich ein Mädchen auf einem Stuhl. Sie erkannte das Gesicht trotz der Dunkelheit. Ein kleines, pummeliges Gesicht, gar nicht hässlich, wenn der Babyspeck erst verschwunden war. Die Kleine hielt ein Schild in der Hand. „Danke für’s Versagen!!!“ stand darauf. In Großbuchstaben.

Sybille Lengauer