Zivildiensterlebnisse (Teil 1), von: Marian Heuser

„Die nächste Tour ist Herr Pälmke!“, plärrte mir Bodo entgegen. Dabei hielt er den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und flutete seinen extrastarken Kaffee (Marke Urwaldmaggi) derartig mit Zucker, als ob er mir das Prinzip einer gesättigten Lösung erklären wollte. Er machte eine Handbewegung, wie sie einem Pascha gebührt, den die 15 zu seinen Ehren tanzenden Jungfrauen nicht genug amüsiert hatten. Bodo war der uneingeschränkte Herrscher seiner gläsernen Fünfquadratmeterparzelle, von der aus er Essens- und Pflegetouren „koordinierte“ – zum Leidwesen aller.
Seine Stimme hatte durch die Jahre währende Monotonie seiner Tätigkeit einen quäkend leiernden Tonfall angenommen und sein Körper hatte sich, in einem quasi evolutionären Prozess, perfekt an seinen Arbeitsplatz angepasst. Sein Kopf stand auch ohne Hörer ständig schief und Bauch und Sitzfleisch waren derartig ausgeprägt, dass er in seinem Bürostuhl wie ein quakender, rollender Kegel wirkte.

Pälmke also. Spitzenklasse! Ein verbitterter Altnazi, wie er im Buch stand. Ich hatte ihn, während meiner immerhin schon sechsmonatigen Zivildienstzeit, bisher nur ein einziges Mal lachen gesehen und zwar, als seine Frau zum Lüften das Fenster aufriss und dadurch die auf dem Fenstersims sitzende Nachbarskatze drei Stockwerke tief in den Innenhof katapultierte. Jaja, der olle Pälmke… Dankbarkeit, gütiger Blick oder gar Trinkgeld waren ihm Fremdworte, aber dafür war er Weltmeister im Beleidigen, Demotivieren und sich bis zum Hals selber Einscheißen. Ein echter „Brauner“ eben.

Danke Bodo! Und wann soll ich da sein? Was sagt der Zettel? Olalaaaa! In… 7 Minuten! Na dann… Sind ja nur 10 km durch die Innenstadt inklusive Ampeln und Baustellen, plus Feierabendverkehr – du Armleuchter! Wie kann man so was planen? Wenn man die Welt dauerhaft im seitlichen 90°-Neigungswinkel betrachtet, verrutschen da irgendwie die Hirnlappen? Und dann auch noch bei Pälmke zu spät kommen… Im Gegensatz zu seinem Schließmuskel ist sein Zeitgefühl absolut intakt und darüber hinaus nimmt er jeden Furz zum Anlass, wieder deutsche Tugenden einzufordern. Heißt im Unkehrschluss: Zur Feier des Tages warten gleich zwei Dünnschisssalven auf mich. Eine rektale und eine orale. Ganz groß! Oh Bodo…
Irgendwann flute ich deine scheiß Bimmelbude und dann haben wir das Aquarium mit dem dümmsten Kugelfisch der Welt!
Während ich, vor mich hinfluchend, auf den Hof schlurfte, rief mir Bodo, durch den Lüftungsschlitz des gekippten Fensters seines Schimpansenkäfigs hinterher: „Ach ja! Und am besten noch heute!“ Klappe halten, Bodo! Deine Karikatur eines Zeitplanes könnte ich nicht mal mit dem Batmobil einhalten und deshalb will ich wenigstens eine entspannte Fahrt genießen, ehe mir der nörgelnde Pflegefall mit vollgeschissener Hose erklärt, dass ich nicht zur Herrenrasse gehöre. Komm, trink noch ein bisschen Zucker mit Kaffee und mach das Fenster zu. Der Sauerstoff bekommt dir nicht!

Als ob Bodo diesen Gedanken bestätigen wollte, ergänzte er: „Ach und nimm den Neuen mit!“ „Den Neuen? Zu Pälmke? Bodo, das ist kein Sprung ins kalte Wasser mehr. Das ist wie mit der Fresse voran auf die Eisfläche zu klatschen. Pälmke hat trotz meiner hellen Haut und meiner Akzentfreiheit wochenlang die Vorlage meines Ariernachweises gefordert und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, der Neue ist MAROKANER!“ Was soll das werden? Der Kampf der Kulturen? „Nanana! Hasse etwa Vorurteile?“ „Hallooho Bodooo!? Sag mal, bist du mit dem Kopf vors Schleusentor geschwommen? Ich hab nix gegen Faisal, aber Pälmke und der Kunde ist ja Führer… äh König!“ – Diskussion zwecklos –
„Hey Faisal! Komm mal mit! Ich stell dir jetzt einen ganz besonderen Kunden vor…“ Wir quetschten uns in den VW Caddy von 1987, der, obwohl das Lenkrad auf viertel nach stand, geradeaus fuhr. Bodos „Ich kümmere mich darum“ klingelte mir im Schädel. Vielleicht hatte er es ja probiert und dann frustriert abgebrochen, als er feststellen musste, dass man eine verzogene Spur leider doch nicht gradequatschen kann. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass für ein pünktliches Auflaufen bei Pälmke jetzt schon ein Streckenrekord von unter 50 Sekunden von Nöten gewesen wäre. Enorm realistisch!
Wir erreichten Pälmkes Wohnplatte mit einer Verspätung von 25 Minuten und 11 Sekunden. Faisal hatte dafür extra die Stoppuhr in seinem neuen Multimediahandy aktiviert. „Ey, voll der krasse Gerät Alta!“ Bei Faisal war die Integration geglückt – keine Frage. Er sprach genauso wenig Deutsch wie der Rest seiner Klasse. „Endstation Walhalla! Alles aussteigen!“ Faisal guckte mich irritiert an. „Wallawas Alta?“ Ich winkte ab. „Klärt sich gleich von selbst.“

Frau Pälmke öffnete wie immer wortlos die Tür. Muffgeruch schlug uns entgegen. Eine Mischung aus kaltem Rauch, diversen Kochgerüchen, alten Socken, schlechtem Atem und warmer Heizung bei wochenlanger Lüftungsverweigerung. Seit dem tragischen Vorfall mit der Katze lüftete Frau Pälmke aus Prinzip nicht mehr. Sie führte uns durch die Wohnung im stilvollen Gelsenkirchener Barock. Eine der Wände war mit unzähligen Rehköpfen und Hirschgeweihen jeder Größe dekoriert. Inmitten des zum Wandschmuck verklärten Rotwildmassakers hing das Foto des grinsenden Herrn Pälmkes. Vor ihm lag ein Wall toter Tierleiber und die Bildunterschrift glich dem Bodycount eines Egoshooterspiels. 12.04.1976 – Rehböcke: 5 – Ricken: 3 – Kitze: 9.
„Krass ey!“ entfuhr es Faisal. „Ey, alle an ein Tach! Boah! Ey, wo hat der Typ so krass schießen gelernt?“ „Faisal, das möchtest du gar nicht wissen.“
Der Geruch wurde schlechter und schlechter, bis wir letztendlich vor der Schlafzimmertür standen. Ich atmete noch mal tief ein, nickte Faisal vielsagend zu und öffnete, nach kurzem Anklopfen, die Tür. Herr Pälmke saß, mit seiner Zigarre zwischen den Zähnen, im Bett und guckte kauzig und zerknirscht.

Zur Begrüßung ertönte ein freundliches: „Ihr seid zu spät! Dreckspack!“ „Ihnen auch einen wunderschönen guten Tag, Herr Pälmke…“ „Mit so Leuten wie euch kann man auch keinen Krieg gewinnen!“ „Sehr richtig, Herr Pälmke! AUCH nicht. Und? Wie geht es uns heute?“ Jetzt erst schien er Faisal zu bemerken. „Und wer ist das da?“ „Das ist Faisal, mein neuer Arbeitskollege.“
„Der sieht aber gar nicht deutsch aus!“ „Alle Achtung, Herr Pälmke, der Anus gibt zwar immer mehr nach, aber die Augen sind ja noch topfit!“ „Ey, isch kom aus Marokko! Problem damit?“ „Klappe Faisal – ich mach das schon.“ Bei Pälmke hingegen klingelte es merklich im Schädel und ihm liefen die Augen über. „WOHER kommst du?“ „Aus Marokko ey.“ „Und? Ist es schön in Marokko?“ „Ey ja. Is voll schön in Marokko!“ „Und warum bist du dann nicht da geblieben???“ schrie Pälmke den verdutzten Faisal an und bekam einen Tobsuchtsanfall.
Aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität wälzte er sich allerdings nur wütend durchs Bett und schleuderte seine Zigarre in die Hydrokultur auf der Fensterbank. Ich konnte mir schon bildlich vorstellen, wie sich der Pampersinhalt gerade ausbreitete. „Beruhigen Sie sich, Herr Pälmke! Das wird eine langwierige Waschung des kompletten Rückens zur Folge haben.“ Faisal stand da wie erstarrt. Ich klopfte ihm auf die Schulter.

„Wir gehen das jetzt anders an“, sagte ich zu ihm und schrieb ihm einen kleinen Satz auf. Als sich Pälmke langsam wieder gefangen hatte, wurde ich laut: „Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Der Mann heißt Faisal Rommel und ist der Sohn des legendären Wüstenfuchses, also salutieren Sie gefälligst!“ Pälmke guckte zwar etwas kritisch, aber sein Rücken war schon merklich gerader geworden und er tobte auch nicht mehr. Seine Augen starrten gebannt auf Faisal, der seinerseits brüllte: „Willst du die totaaaaale Pflege?“ Das „totale“ hatte ich absichtlich mit 5 As geschrieben, aber Faisal machte seine Sache auch echt gut. Pälmkes Skepsis löste sich prompt in blinde Gefolgschaft auf. Sein rechter Arm schnellte nach vorne und ein langes „Jaaaaaaa“ entfuhr ihm! Seine Augen glänzten dabei wie auf dem Foto mit den toten Tieren.
Wir nutzten die enorme Körperspannung Pälmkes prompt aus, um ihn ins Bad zu tragen. Er ließ alles beanstandungslos über sich ergehen und nicht nur das. Er half sogar aktiv mit, sich zu duschen, indem er den Brausekopf am immer noch ausgestreckten Arm selber hielt. Seine Ausdauer war beeindruckend und selbst das Hemdanziehen im Anschluss ging so viel leichter als sonst. Nach vollendetem Werk gab uns Pälmke eine von seinen Zigarren und nötigte uns einen Asbach Uralt auf, den der gläubige Moslem Faisal nur ganz schwer runterkriegte. Wir wurden mit salutierender Geste verabschiedet, sollten bald wiederkommen und Faisal sollte seinen Papa grüßen. „Lass uns abhauen, bevor der Alte noch Salutschüsse abfeuert“, zischte ich Faisal zu, aber der war inzwischen richtig gut drauf und diskutierte, in der ihm eigenen Art, mit Pälmke über den stockenden Panzernachschub.

Plötzlich klingelte das Diensthandy. Bodo! Wie schön! Na los, gib mir einen neuen dämlichen Auftrag, nur bloß weg von hier! „Jaha!“ meldete ich mich in froher Erwartung. „Ja sach ma, wo bleibt ihr denn? Macht ihr da Kaffeekränzchen oder was?“ „Schlimmer, Bodo, viel schlimmer.“ „Häh? Versteh ich nicht.“ „Erklär ich dir später“ „Eeh ja… Lebt denn der Neue noch?“ „Du meinst den Sohn vom Wüstenfuchs? Dem ging es nie besser!“ „Sag mal, hast du gekifft oder was redest du da für nen Stuss?“ „Schön wär’s Bodo – obwohl: Wer weiß, was in Pälmkes Zigarren so drin ist…“ „Du hast doch irgendwas eingenommen!“ Zeitgleich zu dieser Äußerung stimmte Faisal im Hintergrund das Deutschlandlied an. „Ihr kommt jetzt sofort wieder, verstanden? Eure Drogeneskapaden sind für den Zivildienst einfach zuviel. Und bring den Sohn vom Dings ääh Wüstenwolf mit.“ „Fuchs, Guido! Mach ich und du trink dir erstmal noch ne Tasse Zucker mit Kaffee, das beruhigt die Nerven. Ach ja! Und hör auf zu lüften, der Sauerstoff bekommt dir nicht.“

Marian Heuser