für Paul Virilio
Station Null, der Einstieg ins Unterirdische. Über die Rolltreppe abwärts in eine Stille, als ginge es ins Unbewusste, in die heiklen Sphären des Verdrängten, auf die der Alltag seinen Anspruch auf Führung zementiert hat. Ein Abklingen des Straßenlärms, als glitte ein Messer ins Futteral zurück. Die Schärfe der Oberflächengeräusche wird von den Wartezonen leicht weggesteckt, dafür wird aus einem tieferen Fach eine andere Tonart hervorgeholt, das Vokabular verhaltener Schritte, die mit ihren aufgedruckten Slogans raschelnden Einkaufstüten und ein Aufschütteln von Zeitungen, als käme hinter den Überschriften ein neuer Tag zum Vorschein. Ist es Räuspern oder Soundcheck.
Bisweilen wirken Haltezonen, als ginge jedes Geräusch in Deckung. Zeittafeln zählen die Luft an, neueste Berechnungen nahender Ereignisse wohl, Ultimaten, feinstes Zeitmanagement. Schaltzeichen eines Leitsystems gut sortierter Empfindungen. Es ist die Mathematik der Ziele, ein urbanes Rechenexempel mit dem Imaginären, das noch jede Einsamkeit mit Abfahrtszeiten liiert. Überall dieses Optimum, diese Irrtumsresistenz, selbst die Sauberkeit der Wartezonen lässt sich ablesen wie eine Armbanduhr. Pünktlich schalten die Uhren den Haltebereich um auf Körpergefühl, beginnen die Blicke unruhig auf entgegengesetzten Gleissträngen zu wandern, bohren ins Dunkel der Stollen hinein, auf der Suche nach irgendeiner Leuchtspur, einer Botschaft aus der Tiefe der Entfernungen.
Nun aber, subkutan, aus kilometerlangen Röhrennetzen, unterirdischen Venen & Arterien der Stadt, dringt Rauschen, als schaffte der Morgen das Alphabet durch alle Kanäle heran und einige Schienenstränge dahinter presst der urbane Puls sämtliche Hoffnungen von Downtown Richtung Innenstadt. Der Wirbel eintreffender Züge beginnt mit einem glatten Einpass-Ton im Tunnelschacht. Wie aus der Pistole geschossen schlägt ein Hohlkörper ein ins Stillgestandene & Auf- und Abgewartete, ist es ein Cockpit oder ein Projektil mit langem Anhang aus Licht, eine in zahllosen Nächten verhärtete Idee vielleicht.
Mitten im Hirn scheint sich die Spitze zu senken, stoppt bedeutungsschwer in Mittelstellung zwischen Schwerkraft und Wirtschaftsboom. Zum Fortschritt hin öffnen sich elektrische Türen, reagiert die Zeit mit Menschenausstoß, jenem Hineindrängen und Schulterdruck, als habe das Denken eine großartige Zukunft abonniert. Lichtsturz samt und sonders, doch die hinter den Glasscheiben zeigen sich felsenfest & schwer verortet, als hätten sie ihr Siegertreppchen schon bestiegen. So also werden Menschen verschlossen. Abfahrt. Die Solo- und Mehrspielermissionen beginnen.
Der Digitaluhren leuchtendes Nonstop. Jegliche Vorhänge der Müdigkeit beiseitegezogen dokumentiert die Sicht durch Zeitfenster nur knappe Schonfristen. Zeitnot, Zeitmangel, Keinezeit. Ja brächte die Zeit ein Herz auf und jeden Sieg zu Fall, ja kühlte die Luft die Rücken der Zeitbesengten & Zeitgehenkten, ja gäbe die Stadt den Fragen eine Umgebung statt den Antworten, die uns weiterreichen von hier nach dort, uns einlenken in diese mit Augenblicken, mit Kurzaufenthalten abgesteckten Wissensfelder: Zwischenstationen, Scheinaufenthalte. Mitunter wird Geschwindigkeit herabgesetzt, verlangsamen sich die Bilder, rafft das Gedächtnis sein Nervenkostüm in Wartestellung auf, einige Atemzüge lang werden Blicke zusammengesteckt zwischen An- und Auskunft, Einstieg und Ausstieg, allemal schwache Ortswechsel, die ein Bahnhofslautsprecher vertont.
Station 5: Untertage Neonlicht verchromt die atmosphärische Nachahmung eines Operationssaals, die Systematik zweckkonformer Aufbauten, Mülleimer und Plastikbänke, umstellt von blau bezogenem Reinigungspersonal, das auf diese Weise ambulante Funktionen darstellt. Die im Uhrzeigersinn aufgetragene Politur, die äußere Reinigung von Schmerz, dieses Abwischen der Reste an Nacht. Sind es Putztücher oder überdrehen sich die Gedanken, die Arme, dreht sich der Tag wie ein großes Karussell um diese Achse aus durchblutetem Fleisch. Bereinigte Welt, für eine fleckenlose Netzhaut, für einen sauberen Satzbau in den Belüftungsschächten von Undertown. Ja, auch hier diese Bruchfestigkeit in den Gesichtern, als zöge Wind auf, als kämen härtere Zeiten um die Ecke, als jagte die Zeit gleich sämtliche Aktentaschen und Brustbeutel auseinander. Man hält die Blicke eng am Leib, oder der Griff zu Haltestangen, als hielte man sich an Erinnerungen fest.
Finale & Ausstieg: Zielstation voraus durchs Nadelöhr des Ankunftssektors ins Begriffliche der Urbanität: Verkehrsadern, Timing, Bremsweg. Waren es Stationen oder Gedankenpixel auf einem inneren Bildschirm, ein paar Erlebniseinheiten vom Fließband, auf dem die Stadt Identitäten produziert, Entwürfe von der Stange aus der Frühjahrskollektion geradliniger Lebensläufe. Richtung Exit vorbei an den von unzähligen Abenden aufgebrochenen Fahrkartenschaltern, an Hinweisschildern & Straßenverweisen entlang. Auf der Rolltreppe dreht der Tag die Lautstärke hoch bis zum Anschlag, das grelle Ensemble der Gewohnheiten, die schrille Bandbreite des Einerlei. Zum Kuscheln gehts woanders hin, sagt die Eingebung. Wer zuletzt kommt, reibe dem Tag das Leben ein. Schluss. Aus. Finito.
Ralf Burnicki