Personenlosigkeit unter dem lavendelfarbenen Horizont, von: Lukas Rosen

Die ganze Stadt wirkt wie aufgeweicht, die Zäune leicht, wie Federn durch sie hindurch gespannt. Ein milchiger Keks aus Beton und Draht. Eine große Einsamkeit befällt ihn, zwischen ihnen hindurch wandelnd, den Kopf Richtung Zukunft gewandt, die als unendliche Größe lähmend auf den lavendelfarbenen Horizont geklebt wurde.
Der Mensch ist nur noch eine mathematische Größe in den Planungsskizzen der Gegenwart. Er erreicht die Treppe zum Park. Das musikalische Rauschen der lang ersehnten Bäume durchbricht liebreizend seine Gedanken und das notorische Surren der Alltäglichkeit. Gerade, weil er vergessen hat, was Gegenwart eigentlich bedeutet, erschreckt es ihn mit Lächeln. Die Natur ist bezwungen worden. Die Stufen hinab, die als Beweis unserer Verachtung allem Natürlichen gegenüber bis in ihr grünes Innerstes hinein verlegt worden sind. Alles ist organisiert und vorbereitet. Nicht ein Funken Chaos ist mehr zu verspüren. Es wurde Besitz über alle Ästhetik ergriffen. Wir sind gesättigt und betteln um immer mehr. Eine große Angst befällt ihn und euch in stillen Momenten, deshalb muss immer Geräusch da sein. Überall herrscht neonfarbene Leere, die aus ihren zahllosen zahnlosen Mündern gähnt. Spielplätze, Restaurants, Ampeln, Asphalt, Bänke, Bäume. Es ist alles da außer dem Menschen. So als hätte eine geheimnisvolle Krankheit ihn hinweggerafft.
Es erinnert ihn an die Science-Fiction-Szenarien seiner Kindheitsphantasien. Wenn die Vergangenheit ein Herz besessen hätte, würden die Beine jetzt nicht so schmerzen. Er beginnt zu suchen; ruhelos. Er irrt durch Straßen und über sauber und leer gefegte Plätze, die von monströsen Statuen aus Smog und Gold eingenommen werden. Er erfragt den Weg, erhält mechanische Antworten. Er verstrickt sich in Panik und findet schließlich, was auch immer er suchte. Am bewaffneten Portier vorbei, betritt er ein weißes, verwinkeltes, digitales Gebäude. Im Fahrstuhl nach oben bestaunt man seine altmodischen Falten im Spiegel, die gekreuzt werden von den Neofalten seiner Lebenszeit. Er ist älter geworden. Wenn die Spuren nicht wären, könnte der Unterschied nicht sicher bestimmt werden.
Bing. 3. Stock. Die Türen klappen surrend auf. Er steigt aus. Jetzt verwandelt sich alles in einen David Lynch-Film:
Eine ungerade Anzahl sich gleichender Türen baut sich vor ihm auf und er baut sich vor dem Türspion der Nummer zehn auf. ARIT steht auf dem Schild links daneben. Er klingelt. Eine junge Frau öffnet und spricht den Gast unvermittelt auf Englisch an, bittet ihn hinein. Eine andere, ältere Frau sitzt stumm an einem großen Holztisch. Sie reden. Er hat sein Englisch verloren und wühlt unruhig auch in den hintersten Kammern seines Kopfes danach, findet es aber nicht. Es ist ein Forschungsinstitut. Er findet nun doch Brocken seines Englisch, stellt holpernd Fragen damit, um der Situation Stabilität einzuhauchen und um nicht unfreundlich zu wirken. Nach gefühlten fünf Ewigkeiten ist die experimentelle Angst größer als die Manier, man verabschiedet sich überstürzt und ungeschickt.

„Sie soll bloß nicht die Polizei rufen!“,
schießt es beiden gleichzeitig durch den Kopf. Schaumstoffprojektile in die Ohren des Teufels! Beim Verlassen des Gebäudes ist der Weg hierhin zurück bereits vergessen worden. Wieder die Treppe zum Park, diesmal von der anderen Seite. Er durchquert ihn auf den sandigen Wegen, die zwanghaft geschwungen Natürlichkeit symbolisieren sollen, was sie aber natürlich nicht tun. Es ist feucht. Auf seiner Hose sammeln sich kleine, sprenkelige Spritzer weißen Matsches, wie in den Wild-West-Filmen aus den 50ern. Er stapft davon, breitbeinig, in fallendes Laub gewickelt.

Lukas Rosen
Ankara, November 2008