Nachladen statt Nachsitzen, von: Mika Reckinnen

Er stand zum ersten Mal seit langem wieder vor dieser Schule. Dieser alte Kasten, architektonisch an die Kolonialzeit erinnernd. Hier im Dschungel der Kleinstadt. Wer hatte dieses Schulgebäude nur errichten lassen? Oder war es mal ein Verwaltungsgebäude und es würde heute von den Leuten nur so genutzt? Er wusste es nicht. Er hätte es auch nicht nachlesen können, denn mit Lesen hatte er es nicht. Es war ihm aber auch egal. Lesen, Schreiben, Bildung. Alles für die Katz. Stattdessen hatte er auf der Straße gelernt. Er hatte viel gelernt. Er brauchte dafür keine Schule, er brauchte dafür keine vom Staat bezahlten Lehrer.
Nun lud er sein Gewehr mit weiteren Patronen nach, tauschte das Magazin in seiner Pistole, die am Gürtel baumelte, und überprüfte noch einmal den Sitz des Messers. Sicher war sicher. Was wäre, wenn seine Patronen verschossen, aber noch Menschen im Gebäude übrig wären? Es war zur Selbstverteidigung, nichts anderes.
Er duckte sich wieder hinter einen Baum, als er einen Schatten in der Schule zucken sah. Er griff nach dem Fernrohr, konnte aber nichts mehr erkennen. Die Morgensonne stand immer höher am Himmel. Der Zenit würde zwar erst in einigen Stunden erreicht werden, aber zu der Zeit wollte er schon fertig sein mit seiner Arbeit, mit seinem Werk, mit seiner Bestimmung.
Noch einmal blickte er auf sein Gewehr. Er war bereit zu töten. Sein Blick flog über den Hinterhof der Schule. Keine Person zu sehen. Er checkte noch einmal die Fenster, nichts zu sehen. Also lief er los, in Richtung Hintereingang der Schule. Keine Menschenseele weit und breit. Auf der Rückseite der Schule war es ruhig. Eine Ruhe, wie auf dem Friedhof. Erst als er die Tore öffnete, vernahm er gedämpfte Stimmen. Er huschte hinein in das Gebäude und kauerte sich hinter einen großen, grauen Pfeiler. Er hörte wieder hin. Es klang wie ein Chor, wie das Singen von vielen. Die Melodie war aus seiner Position nicht hörbar. Er schlich um die nächste Ecke. Der Chor wurde lauter. Vielleicht waren alle Schüler auf dem Innenhof des Gebäudes versammelt. Er konnte es aus seiner Position nur vermuten.

Er hielt kurz inne und blickte auf die kleine Uhr an seinem Handgelenk. Ein Geschenk von Johann. Eine Ehre, die Uhr zu tragen. Johann war sein Herr und Meister. Er hatte ihn gelehrt, mit Waffen umzugehen. Er hatte ihm beigebracht, dass Schule überflüssig war. Waffen, Schießen, Morden, Überleben, das waren die wichtigen Dinge im Leben.
Die Zeiger verschwommen leicht vor seinen Augen. Er nahm seit neustem die Tabletten, die Johann ihm gab. Er sagte, es wären Aufbaupräparate. Sie machten ihn ausdauernder, sie machten ihn wacher, fitter. Ohne diese Aufputschmittel würde er wohl kaum bis an die Zähne bewaffnet in der Schule stehen, nach der letzten Nacht. Er hatte nicht geschlafen. War sehr nervös gewesen. „Das legt sich wieder“, hatte Johann ihn persönlich beruhigt. „Du musst nur diese Aufgabe erfüllen, dann hast Du das Schlimmste überstanden.“ Er hatte nur genickt. Das würde schon werden.

Jetzt kroch er auf dem Bauch weiter. Er robbte um eine weitere Ecke, versuchte, einen Blick in den Innenhof zu erhaschen. Nach wenigen Metern hatte sich der Winkel verändert, sodass er einige der Lehrer erkennen konnte. Den einen kannte er aus seinem Dorf. Er hasste ihn, diesen immer Allwissenden. Außerdem hatte der Scheißtyp ihn bei seinen Eltern verraten. Diese hatten ihn bestraft, hart bestraft. Der Lehrer hatte ihnen das mit Johann erzählt. Das sollte er jetzt büßen. Er robbte bis zur nächsten Mauer, von wo er einen Blick auf den ganzen Innenhof erhaschen konnte, aber dennoch war er weitestgehend geschützt. Alle Schülerinnen und Schüler waren tatsächlich im Innenhof versammelt. Sie sangen fröhliche Lieder.
Die Wahlen waren gerade beendet worden, Johann hatte auch kandidiert. Johann hatte nicht erfolgreich kandidiert. Aber Johann hatte Geld und so etwas wie eine eigene Armee. Und er war ein Teil dieser Armee. Er wäre der Erste, der Auserwählte. Er dürfte den Auftakt machen. Hier in dieser Schule.

Er nahm das Gewehr, legte es an seine Schulter. Er blickte kurz in Richtung Innenhof. Dann bäumte er sich leicht auf, kramte aus seiner Hemdtasche ein Zielfernrohr und schraubte es auf das Gewinde am Gewehr. Dann legte er erneut an. Er nahm den Lehrer ins Visier, diesen Judas. Er zitterte leicht.
Dann fiel ein Schuss und der Lehrer nach hinten über. Die Spannung löste sich auf. Ein Kick, wie damals, beim ersten Schuss. Er hatte dem blöden Nachbarn seiner Eltern sauber ein Loch in die Stirn verpasst. Der Chor verstummte. Einige begannen zu kreischen. Dann fielen weitere Schüsse. Blut spritzte in hohen Bögen, Menschen stolperten, Menschen sackten zusammen, Menschen liefen übereinander, alles war in Panik verfallen. Es roch nach verbrannter Haut. Er genoss es. Wischte sich den Schweiß von der Stirn, ohne dabei das Gewehr abzunehmen, ohne auch nur aufzuhören, in die Menge zu schießen. Einem Mädchen schoss er die Zöpfe und das Ohr ab, einem Jungen direkt ins Auge. Während der Junge danach in sich zusammen sackte, schrie das Mädchen Panik artig auf und lief in seinen nächsten Schuss, der eigentlich wem anderes gegolten hatte. Doch der Schuss durchsiebte das Mädchen und die eigentliche Zielperson. Das größere Kaliber hatte sich spätestens in diesem Moment rentiert.
Er lag derweil seelenruhig nieder, schoss seine Patronen in die Menge, lud leicht und locker nach, schoss weiter in die Menge und hatte so innerhalb von wenigen Minuten ein Blutbad auf dem Innenhof angerichtet. Panik regierte, Menschen liefen in alle möglichen Richtungen, rutschen auf Blutlachen aus, stolperten über Extremitäten, fielen übereinander.

Es dauerte einige Zeit, vielleicht drei Minuten, bis die beiden Wachleute vom Haupteingang in Richtung Innenhof gelaufen kamen. Dem ersten wurde allerdings gleich beim Eintreffen auf dem Innenhof die linke Kniescheibe zerfetzt. Er sackte linksseitig zusammen. Ein zweiter Schuss traf ihn noch während der Fallens und durchbohrte seinen Schädel. Er hatte nicht einmal die Waffe ziehen können. Der andere Wachmann war gewarnt. Beide hatten vor Tagen die Drohungen nicht ernst genommen. Niemand würde eine Schule angreifen. Nicht einmal dieser Johann, dieser Extremist, dieser Faschist mit seinem Hitlerbärtchen. Die Gerüchte von seiner Armee, niemand hatte sie geglaubt.

Johann saß derweil mit einem Drink in seiner Hand in einer Liege am Pool seines Luxusanwesens. Drei hübsche Frauen bedienten ihn. Er nippte kurz am Bananenmilchshake, spuckte die weißgelbliche Flüssigkeit aus und warf das Glas auf den Boden. „Der schmeckt wie Scheiße!“ Eine der Frauen lief sofort in die Küche, machte einen neuen Shake. Er war immer noch wütend. Am liebsten hätte er jetzt eine der Frauen verprügelt, doch er riss sich zusammen. Es würde seine Laune nicht aufbessern, zu häufig hatte er das schon probiert.
Eigentlich waren es die verlorenen Wahlen. Diese Scheiß Wahlen. Wer brauchte Wahlen? Die verlorenen Wahlen, die würde er rächen. Die Menschen wären noch nicht soweit, hatte einer seiner Berater gesagt. „Mein Reich wird bald kommen“, hatte er entgegnet. „Mein Wille geschehe!“
Sein Berater kam genau in diesem Moment in den Garten des Anwesens gelaufen. Ein Radio in seiner Hand. „Sie bringen es gerade, Sir! Sie bringen es gerade im Radio. Die Schule, Schüsse sind gefallen, die Revolution ist nicht mehr aufzuhalten, Sir!“ Johann schaute ihn grimmig an, dann blieb sein Berater stehen und grüßte ihn mit ausgestrecktem Arm. Johann gefiel diese Geste, ihm gefiel diese Nachricht und ihm gefiel der neue Milchshake, den die eine Frau jetzt brachte. Er verspürte eine leichte Erregung und er dachte daran, sich gleich eine der Frauen zu nehmen.

Am kommenden Tag lautete die Zeitungsmeldung im weit entfernten Deutschland nicht: „Amoklauf an Schule, 52 Menschen tot“, sondern „Johann Mbata setzt weiter Kindersoldaten ein – Schüsse in Schule, UN und EU sind besorgt!“

Mika Reckinnen