Tokyo, von: Sybille Lengauer

Ich stehe inmitten eines märchenhaften Blätterwaldes. Zartgrünes Licht fällt durch die Blätter in Strahlen aufgefächert zu Boden. Die Luft ist kühl und duftet angenehm würzig nach Kräutern und Farnen.

Vor mir befindet sich eine kleine Lichtung, auf die ich langsam zuschlendere. Ich habe vor, mich auf ihr auszustrecken, den Himmel zu beobachten und vielleicht ein vierblättriges Kleeblatt zu finden. Glücksgefühle flattern durch meinen Bauch.
Mit glänzenden Augen trete ich auf die Lichtung und vor mir kippt die Welt, von einem Augenblick zum nächsten, so plötzlich, dass ich kurz das Gefühl habe zu fallen.

Um mich ist alles wirr und laut.
Ich stehe in den Straßenschluchten von Tokyo.

Zwar kenne ich diese Stadt nur vom Hörensagen, doch ist mir sofort Traumsicher bewusst, dass es sich nur um Tokyo handeln kann. Menschen hasten im Zeitraffer an mir vorbei und sogar durch mich hindurch, ohne merklich Notiz davon zu nehmen. Mir wird jedes Mal klamm in der Seele, wenn sie mich durchdringen, und ein Schaudern läuft von meinem Scheitel bis zu den Zehenspitzen.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils sind alle angenehmen Empfindungen in mir verschwunden. Ich fühle mich gestresst, hektisch und unter enormen Druck. Zur selben Zeit fällt mir auf, dass ich das einzig farbige Element in einem, in verschiedenen Grautönen gestaffelten Menschen- und Häusermeer bin. Alle Gebäude, alle Passanten unterscheiden sich nur durch hellere oder dunklere Schattierungen. Gehetzt sehe ich mich um.

Mitten im Gewühl der Menge werde ich des einzig anderen farbigen Fleckens gewahr, der in der Gräue unterzugehen droht. Ich nähere mich unter Schwierigkeiten, versuche, die Menschen nicht zu berühren.
Der Gedanke an die ‚grauen Herren’ in Momo drängt sich mir ins Bewusstsein, nur dass ich leider weder eine Stundenblume, noch eine freundliche Schildkröte zur Verstärkung dabei habe. Ich bin allein.

Erneut öffnet sich vor mir eine Art Lichtung, allerdings befindet sich in ihrem Zentrum allein diese auffallende Person. Nun kann ich endlich Details erkennen und würde sofort sehr viel dafür geben, sie auf der Stelle wieder zu vergessen.

Es ist ein Mann, zumindest nach seiner Kleidung und den Resten des Haarschnittes zu schließen. Das Gesicht ist nicht mehr erkennbar, da er es in rhythmischen Abständen gegen die Mauer rammt, vor der er steht. Seine Stirn und Nase sind eine einzige blutige Masse, auf der vereinzelt Hautfetzen und glibberige Dinge hängen. Auch der Oberkiefer ist fast weggebrochen, Teile der unteren Zahnreihe sind zwischen Unmengen von Blut auszumachen.

Trotz dieses elenden Zustandes fährt der Mann kontinuierlich damit fort, seinen Schädel an der Wand zu zerbrechen. Es knirscht. Niemand scheint ihn dabei zu bemerken, die Leute hasten weiter an uns vorbei, lassen instinktiv eine Lücke, in der ich jetzt stehe, um zu beobachten, wie sich die Reste des Vorderkopfes allmählich in Brei verwandeln. Ich wage den Versuch und spreche ihn an. Mir graust zwar fürchterlich und am liebsten würde ich laut schreiend davonlaufen, aber ich bleibe. Ich muss!

Ich tue es. Er zeigt keine Reaktion. Anfassen will ich das blutige Geschöpf nicht, dem mittlerweile das Hirn auf die perfekt polierten Schuhe tropft. Wenn ich ihn berühre, werde ich wahnsinnig, das weiß ich. Allerdings kann er mich scheinbar genauso wenig hören und sehen wie die anderen Gestalten, was bleibt also übrig, wenn ich der einzige Mensch bin, der ihn in seinem Irrsinn bemerkt?

Ich berühre ihn also doch, vorsichtig und jederzeit bereit zur Flucht. Mir ist schlecht und ich muss würgen. Der kalte Schweiß läuft meinen Rücken hinunter. Der Körper vor mir erstarrt in seiner Bewegung, dreht sich zu mir um und zwischen Resten von Knochen, Blut und Fleisch glotzen mich zwei triefend rote Augen fragend an.

Als es ihm endlich gelungen ist, mich durch all das Blut zu fixieren, verzieht sich das Überbleibsel seines Mundes zu einem gurgelnden Schrei. Er springt zurück, dreht sich so schnell um, dass er fast über seine Beine stolpert, und rennt mit grotesken Bewegungen davon.

Völlig verwirrt bleibe ich zurück, blicke zu Boden und ein wenig Blut- und Hirnmasse fällt platschend auf meine perfekt polierten Schuhe. Während ich noch naiv versuche, den Ursprung zu klären, fällt mir ein Zahn aus dem völlig zermatschten Gesicht.

Mir wird unendlich schlecht, Brechreiz hindert mich am Atmen und ich fasse panisch mit den Händen an mein Gesicht.

Der Versuch der Bewegung weckt mich endlich aus diesem Alptraum…

Sybille Lengauer