Manchmal weint man halt, von: Mika Reckinnen

Sie weinte. Manchmal weinte man halt, dachte sie dann. Das war wie Regen. Manchmal regnete es. Ihr Vater hatte für all das immer eine Erklärung. Wegen der Wolken und verschiedenen Schichten, sagte er dann immer. An Anhöhen wie Bergen würden sich dann die Schichten verschieben und es würde regnen. So etwas in der Art sagte er jedenfalls. Er war sehr schlau und hatte einst studiert, hatte Mama erzählt. Doch er hatte noch so lange studieren können, für ihre Tränen hatte er keine Erklärung. Er wurde dann selber immer ganz traurig. Deswegen glaubte sie ihm die Sache mit den Wolken auch nicht. Wie konnten Gebilde, wo man durchfliegen konnte, auf einmal regnen.
„Dann wäre das Fliegen ja wie ein Fahren durch einen Wasserfall“, sagte sie. „Naja, es regnet nur, wenn sich die Schichten übereinander schieben, wenn sie zum Beispiel über einen Berg klettern müssen“, erklärte ihr Vater. „Dann würde es aber nur an Bergen oder großen Häusern regnen. Aber wir wohnen auf dem Land, da gibt es keine Berge, keine Hochhäuser. Dennoch regnet es oft.“ Ihr Vater wusste darauf keine gescheite Antwort. Er fasste sich dann immer ans Kinn und rieb daran. Sie beobachtete das gerne. Das tat er nämlich immer, wenn sie eine Frage stellte, die für ihn nicht einfach zu beantworten war. „Hm“, machte er dann immer. „Hm!“ Dann lachte sie manchmal. Jetzt sagte sie nur: „Also weinen Wolken manchmal, wie ich manchmal weine. Man weiß nicht warum, oder? Manchmal weint man halt.“
Ihr Vater rieb weiter am Kinn und machte nochmal „Hm!“ Dann grinste er. „Vielleicht hast Du doch Recht, Wolken weinen manchmal.“ Sie lächelte immer, wenn er ihr Recht gegeben hatte. Das machte sie stolz. Obwohl sie nicht wusste, ob er ihr nur Recht gab, weil er seine Ruhe haben wollte oder weil sie ihn überzeugt hatte. Aber dann hatte sie alles sehr schnell wieder vergessen und sie redeten über etwas anderes.

Seitdem sie hier war, sahen sie sich täglich und das war doch was Schönes. Lange Zeit hatte sie nur ihre Mutter gehabt, den Vater meistens nur am Wochenende. Jetzt konnte sie ihm jeden Tag sagen, dass sie sich freue, ihn zu sehen. Er lächelte dann häufig verlegen und entgegnete: „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Dann kullerten beiden manchmal ein paar Tränen über die Wange, auch wenn Vater die Tränen dann versuchte zu verstecken und so tat, als hätte er etwas im Auge, oder sich zur Seite drehte, dass sie das nicht sehen konnte. Ihre Tränen versteckte sie nicht. Das ginge auch gar nicht, weil sie in letzter Zeit sehr häufig geweint hatte und es zu anstrengend wäre, immer ihre Tränen zu verstecken. Aber wenn sie mit Vater weinte, dann war das meistens nicht, weil sie traurig war, sondern umgekehrt. Sie war wirklich glücklich in diesen Momenten, da log sie nicht. Es war wie mit den Regenwolken, dachte sie dann, manchmal weint man halt.

Heute hatte er ihr ein Stofftier mitgebracht. Sie erkannte es gleich wieder, denn sie hatte es neulich schon gesehen. Es war ein Hase, aber für einen richtigen Hasen hatte er zu kleine Ohren. Er würde nicht richtig hören können, wenn Gefahr auf ihn zukommen würde, hatte sie dann zu ihrem Vater gesagt und er hatte nur „Hm!“ gesagt. Da hatte sie lachen müssen. Er hatte sie nur erstaunt angesehen. „Warum lachst Du denn jetzt?“ wollte er wissen. Doch sie kicherte nur weiter.
„Ach, Vater, denk doch mal drüber nach.“ Er schaute sie erstaunt an.
„Über den Hasen?“
Sie lachte lauter auf. „Neiiin!“ quiekte sie schon fast. „Doch nicht wegen dem Hasen. Wegen Dir lache ich.“
Er schaute noch erstaunter, machte wieder „Hm!“. „Genau!“ sagte sie und quiekte wieder erfreut laut los.
„Was ist denn so witzig an meinem ‚Hm’?“ fragte er.
Sie lächelte. „Ach Vater“, sie drückte ihren kleinen, dünnen Körper an seinen und er legte seine Arme um sie.
„Ich verstehe es nicht, Du musst es mir erklären.“
Sie schaute hoch. „Ich habe dich noch nie ‚Hm’ sagen hören, ohne dass Du dich dabei nicht am Kinn kratzt. Das ist doch lustig.“ Er nahm sie auf den Arm und sagte nur „Hm!“, dann fingen beide an zu lachen.

Die Zeit, wenn ihr Vater da war, verging immer wie im Fluge. Er wechselte sich ab mit ihrer Mama. Die war meistens morgens da und morgens passierte einfach nicht viel. Die Welt schlief noch und auch hier schlief sie lange. Erst nach dem Mittagessen erwachte sie langsam, die Welt. Das Schöne war aber, dass Mama und Vater sich immer noch kurz sahen, wenn sie sich abwechselten mit dem Besuch. Das war etwas Besonderes für sie. Früher, wenn Vater kam, um sie abzuholen, hatte Mama sich häufig irgendwo versteckt oder war einkaufen gefahren. Sie sagte immer, sie hielt „es“ nicht aus. „Was ist es?“ wollte sie dann immer wissen, doch sie bekam keine Antwort.
Das war jetzt anders. Letzte Woche hatte sie sogar beobachten können, wie die beiden einige Minuten normal miteinander geredet hatten. Ohne zu streiten. Wie Kinder, die zusammen berieten, was sie spielen wollten. Sie hatten draußen vor ihrem Raum gestanden. Sie hatte die beiden von innen durch das Glasfenster beobachten können. Das war schön zu sehen. Es war wie eine richtige Familie. Sie weinte dann wieder. Wie die Wolken, dachte sie, und draußen begann es zu regnen.
„Das passt ja“, hatte sie da leise zu sich gesagt. Dann waren sie doch nicht mehr nach draußen gegangen, sie und Vater. Eigentlich hatten sie es vorgehabt. Aber mit dem Regen ging das nicht.
„Du holst Dir noch den … eine Lungenentzündung“, hatte Vater sie ermahnt. Mitten im Satz hatte er kurz gestockt. Er wollte „den Tod“ sagen, hatte es sich dann aber anders überlegt. Dafür hatte sie ihn in den Arm genommen, denn es war lieb, dass er auf seine Worte achtete. Sie waren dann nach unten gegangen und hatten ein großes Stück Kuchen gegessen. Das war fast genauso schön, wie draußen sein. Denn in dem Raum, wo man den Kuchen isst, steht vor dem Fenster ein großer Käfig, in dem einige Wellensittiche fliegen und zwitschern. Das Fenster war noch offen und so konnte sie den Regen riechen und die Vögel hören. Das war ein schöner Moment.

Heute lag sie im Bett. Sie war zu schwach. Aber das war egal, denn Vater hatte ihr ja den Stoffhasen mitgebracht. „Auf den passe ich jetzt für immer auf. Danke Vater!“ Sie richtete sich leicht auf, doch irgendwie fehlte ihr die Kraft und sie sank zurück ins Kissen. „Streng Dich nicht so an“, ermahnte ihre Mutter sie noch und verabschiedete sich dann. Es war das erste Mal, dass beide eine Zeit lang in ihrem Zimmer zusammen waren. Nach dem Gespräch vor der Tür hatte sich die Atmosphäre zwischen beiden deutlich entspannt. Das machte sie glücklich. Sie konnte endlich mal beide auf einmal sehen, für ein paar Minuten nur, aber immerhin. Dann lächelte ihre Mutter sie und ihren Vater nochmal an und verschwand. „Bis morgen“, sagten alle drei noch leise.
„Der Hase passt auch auf Dich auf“, erklärte Vater ihr dann.
„Aber Vater, der hat doch gar keine großen Ohren. Der hört doch die Gefahr gar nicht.“
Ihr Vater sagte „Hm“, kratze sich am Kinn und lächelte. „Da ist was Wahres dran. Aber er kann die Gefahr erahnen und sehen. Dieser Hase hat nämlich super Augen! Und den siebten Sinn.“ Sie lachten zusammen. Das tat gut. Sie lachten immer viel zusammen, seitdem sie hier war.
„Was ist denn der siebte Sinn?“ Wollte sie wissen. „Oh weia“, antwortete Vater. Das machte er immer, wenn er eine Antwort nicht in ein oder zwei Sätzen geben konnte. Entweder fing er einen langen Monolog an oder aber er sagte, für die Antwort sei gerade nicht genügend Zeit vorhanden. Diesmal wollte sie ihn aber nicht zu einer Ausrede oder einen Monolog animieren und redete stattdessen selbst. „Schau, Vater, draußen hat es heute morgen geschneit. Als mich die Schwester zum Frühstück aufgerichtet hat und wir auch kurz auf Toilette waren, hat sie mich aus dem Fenster blicken lassen. Der ganze Rasen unten war weiß. Kannst Du für mich nachsehen, ob da immer noch Schnee liegt?“ Sie richtete sich wieder etwas auf, diesmal erfolgreicher. Doch sie schaffte es trotzdem nicht, außer dem Himmel irgendetwas außerhalb des Fensters zu sehen. Ihr Vater stand auf, ging zum Fenster und blickte raus. „Nichts zu erkennen, außer ein paar Kaninchen, die draußen auf dem Rasen nach etwas Essbarem suchen. Kein weißer Schnee mehr. Aber es soll die nächsten Tage noch mehr schneien.“ Er setzte sich wieder auf den Stuhl an ihrem Bett.
„Meinst Du, dass dieser Hase hier auch lieber draußen wäre?“
„Nein, mein Schatz, dieser Hase hat mir heute morgen noch versichert, dass er nirgendwo lieber sein möchte als bei Dir.“ Vater setzte den Hasen auf die Decke über ihrem Bauch. „Sieh nur, wie zufrieden er schaut, seitdem er hier ist.“ Tränen liefen ihre Wangen herunter.
„Glaubst Du, dass ich noch mal Schnee sehen werde?“ fragte sie wie aus dem Nichts. Der erwachsene Mann am Rand des Bettgestells schluckte schwer. Er hoffte es. Er hoffte so sehr, dass sie noch einige Winter sehen würde. Nur, mehr als Hoffnung blieb ihnen beiden nicht. Da begann auch er zu weinen. Das erste Mal seit Jahren, dass er in der Öffentlichkeit weinte und seine Tränen nicht versuchte zu verstecken. Die Tränen strömten aus seinen Augen, als wäre ein oft zitierter Damm gebrochen. Gefolgt von einem Schluchzen, das sie nicht verstand. Sie nahm die Pfote des Hasen und strich ihrem Vater sanft über die Hand. „Manchmal muss man halt weinen.“

Als er am nächsten Tag auf die Station kam, standen schon die Ärzte vor der Zimmertür. Es hätte einen Rückschlag gegeben. Sie hätte einen Schub im Krankheitsverlauf gehabt. Als er in das Zimmer kam, hielt seine Exfrau die Hand ihrer Tochter. Diese lächelte, als sie ihren Vater reinkommen sah.
„Vater“, leise durchdrang ihre Stimme die Stille des Zimmers, „schau draußen, es hat angefangen zu schneien. Die Wolken weinen heute keinen Regen.“ „Shhht, streng Dich nicht so an“, sprachen ihre Eltern fast synchron. „Ich möchte nur wissen, warum es jetzt nicht regnet, sondern schneit.“ Sie lächelte, doch Tränen kullerten über ihre Wangen.

Mika Reckinnen