Was immer man auch sucht, WAS findet man?
Ein schwarzer, scharfer Geruch von in Essig eingelegten Oliven zieht durch die Nasen, durch die Gassen, eng, bis an die ebenso schwarze Basaltmauer, die die Stadt ganz umschließt, sie fest im Griff hat wie in einer innigen, aber unfreiwilligen Umarmung. An das Alte erinnernd! Ein bleiernes, leierndes Lied liegt über den stetig befeuchteten Wegen und Kopfsteinpflastergassen. Es wirkt ausgetreten. Es scheint, als sei die Tonart Moll nur für die Kurden und/oder die Türken, für die Armen und/oder Leidenden des Landes oder auch nur speziell für diese Stadt erfunden worden. Die tiefe E-Saite als der Blues Diyarbakırs, der Stadt der wechselnden Besitzer. Der Ton schwebt traurig über den Liedern, die von Mädchen, die vor den fünf Toren der Stadt sitzen und stricken, handeln. Oder über das Unrecht und von der Unterdrückung. Manchmal mischt sich ein bestimmtes Wort in den kurdischen Anteil der Lieder. Dann glänzen ihre Augen, die Faust zum Gruß. Dann ist Hoffnung da.
Kinder in allen Größen und Farben ziehen – ihr Handwerkszeug in den Händen – durch die Hitzeflächen des Tages. Waagen, Taschentücher, Wasser, Zigaretten oder Obst, es gibt alles aus ihren kleinen Handflächen zu kaufen. „Da ein Tourist!“, schreit ein kleinerer, barfüßiger Wuschelkopf. Die Masse setzt sich in Bewegung. Die Auserspähten verziehen sich sogleich in vertrackten Bewegungen, kleine Haken schlagend in die Seitengassen, dem Lauf des Abwassers folgend. Die großen Reiserucksäcke auf ihren Rücken behindern sie dabei. Es sind vermutlich Weltreisende; mit dem Nachtbus aus İstanbul hier angekommen. Über die holprigen, verschlungenen Straßen des Ostens. Überall im Land werden diese zweispurigen, tausendjährigen Wege, über die schon die verschiedenen Trecks der Eroberer zogen, die kaum einmal ein Auto befährt, zu vierspurigen Autobahnen aufgemotzt, auf denen dann auch niemand fahren wird. Als würde man Platz schaffen wollen für die Moderne und den Fortschritt. Als käme auch der Fortschritt per Nachtbus aus dem Westen. Einer der Touristen stößt sich auf seiner Flucht den Kopf an den tief gegen die Abendsonne gerichteten Markisen. Er flucht in einer unbekannten Sprache. Dann sind sie von den Gängen verschluckt, von der Stadt absorbiert. Und das Leben setzt seinen gewohnten Gang fort. Immer im Kreis an der Mauer entlang.
„Bitte nicht die Gedanken bleichen!“
Das steht auf dem runden Torbogen zu einem Innenhof. Alle Häuser werden durch Mauern voneinander ferngehalten. Brandgeruch taucht vom Wald an den Rändern der Stadt her auf, überzieht den Olivenduft mit noch mehr Mangel. Er verklebt die Nasenlöcher und die schönsten Gedanken mit gelbem Schwefelzweifel. In welchem Haus mag der Teufel wohl wohnen? Oder ist es ein Hotel? Irgendwo sitzt er und frisst Fliegen. „You have to talk to the people, if you really wanna know, what this city is all about…”, flüstert ein Mann von der Seite. Man antwortet ihm auf Türkisch, kindisch: „Man muss gar nichts!“ Aber er hat Recht. Kennt denn irgendjemand von der Straße den direkten Weg in das Herz der Stadt? Die geraden Wege führen in den Tod, sagt man und das wussten wohl auch die Stadtväter. Jeder Ort ist hier nur in Winkeln und Aberwinkeln zu erreichen, über eintausend Ecken verteilt. Mitten durch das Leben; auf krummen Wegen!
Die Sprache der Hausbesitzenden ist nicht sichtbar. Nicht auf Schildern oder in Fenstern. Nur als blanke Farben erscheinen sie versteckt in den Ecken oder als pathetisches Lippenbekenntnis beim Gespräch an der Ladentheke. Es ist heiß. Man kauft Eis. Der Zufall bestimmt einen Großteil der Tage; auch dieses Tages. Dann noch einen Tee. Und dann noch einen. Und zur Abwechslung wird kurdischer Kaffee gereicht. Kaffeesatz in Milch. Dieser Kaffee ist irgendwie ein Eingangsportal aus rankenden Rosen zu unserer Vergangenheit. Viele Menschen steigen gleichzeitig durch ein wehendes Meer aus knochenfarbener Seide hindurch, hinab in die Welt ihrer vergrabenen Erinnerungen.
„Ne kadar yaşıyorum? Yaşamım benim mi?“
Das steht auf einer großen Holztafel am Eingang zur Dunkelheit. Die Bedeutung der Stadt liegt in ihren Symbolen verborgen. Ist das, was du heute hast, auch das, von dem du damals träumtest? Der Markt der Möglichkeiten liegt… wo noch einmal genau? Man schaut auf den Stadtplan. Freundliche Männer bieten an ihren Schnurrbärten drehend Orientierung an, die man zweifelnd betastet. Man marschiert los. An der nächsten Straßenecke wechselt auch wieder die Sprache. Dann noch einen Tee. Und dann noch einen. Die Stadt hat schon zu lang in der Sonne gesessen und zu viele Bitterstoffe in sich aufgenommen. Vor den Strahlen flüchtet man nun in das Innere der Stadtmauern. Ein Dichter zerknüllt seine schlechten Texte und wirft sie wütend von der Balustrade in den Innenhof. Sie rieseln herunter wie Schnee im Sommer. Auf einem der Fetzen steht:
„Es schneit nur ein einziges Mal in unseren Träumen!“
Ein Zug kommt an am Bahnhof und schüttet kalte Luft aus dem Inneren der Festungsmauern den Massen vor die Füße. Der Duft kalter Steine umspielt sogleich die Beine der Cafégäste. Roter Samt als Tischtuch und der Versuch, das Geheimnis des hier verkauften Mayahkaffees zu enträtseln. Der Besitzer des Café lächelt und lässt sich seinen bodenlangen Bart von seinen Kellnern kraulen. Man bestellt noch einen Tee, der diesmal in einer Sänfte gebracht wird.
Die Gläubigen hingegen meiden das Öffentliche der belebten Plätze, verleben ihre Zeit und den Tag in einer der vielen Moscheen der Stadt, Gottes klimatisierter Chill-Out-Area. Man telefoniert und unterhält sich, stößt Schwüre gen Licht. Draußen befreien Passanten mit Kussmundlippen kleine Katzen aus den selbst gewählten Fallen vergitterter Fenster. Diese Unvernunft der Jugend.
Es wird Nacht. Die Göttin der Dunkelheit senkt ihren Kopf, umschließt die Welt oder zumindest die Stadt mit ihren violetten Lippen. Genau weiß man es nicht. Nun werden die Menschen in der Festung wieder festgebunden, die Zungen werden ihnen an die Unterlippen genagelt, der Schmerz ist süß und die Erinnerung ist fort. Verblasst. Verboten war sie eh schon eine geraume Zeit lang. Man selbst sitzt draußen am Tigris, begrüßt die Schwärze mit einem frischen Glas grauer Milch, die die Katzen nicht mögen und lieber die Nacht anjammern. Ein sanfter Wind – in den Lungen der Zeit wohl geboren – kommt auf. Die vor Staub keuchenden Gehsteige begrüßen ihn freudig, stöhnen aber nur ein paar Minuten später wieder auf. Nun unter der Last von Millionen Paaren schöner Schuhe parfümfarbener Trägerinnen, die jetzt ihre Chance suchen, ihr Haus für die Nacht verlassen. Unter einer Brücke knacken zwei alte Männer Sonnenblumenkerne im Akkord und befummeln sich danach heftig, sich innig umarmend. Das Jammern der Katzen wird jedem hier jetzt doch zuviel. Die Kussmundlippe kastriert die Kater und wirft die Anderen in den Tigris, den die Einheimischen ‚Dicle’ nennen. Die Macht der Möglichkeiten ist ungebrochen. Man trinkt Tee und graue Milch, genießt die Stille der Welt und die Kühle der Nacht, auf das Grauen eines neuen Morgens wartend.
Lukas Rosen
Diyarbakır, Juli 2009