Anarchie braucht keine Hosenträger (ein poetisches Konzentrat in 6 Worttabletten), von: Ralf Burnicki

Anarchie braucht keine Hosenträger Krawattennadeln oder Wahrheiten die sich in warme Socken verwandeln kaum daß die Sprache in ihnen Fuß gefasst hat Anarchie braucht keine Moral keine Tapete des Denkens keine Objektivität diese Lebensversicherung des Alltags die unter den Achseln juckt sie braucht keine Parteien jene Lutschbonbons aus dem Regal für Sonderangebote Anarchie braucht keine Religion oder Schiedsrichter Wegweiser Lehrstühle Anarchie ist Leben

Anarchie ist Leben Anarchie ist keine 4 Zimmer Wohnung und sie ist auch kein Swimming Pool kein Vorgarten keine Schönheit kein Hauptgewinn sie ist auch keine Sitzhaltung Anarchie ist kein Fahrstuhl Da ist kein Knopf dran um sie zu regeln oder abzustellen Anarchie ist keine Methode keine Filteranlage kein Mikroskop unter dem sich das Leben seziert Sie ist auch kein Fahrschein kein Urlaubsziel keine Zeitreise Sie ist keine Psychologie keine Therapie kein Fußball Anarchie ist Lebensraum

Anarchie ist Lebensraum Sie ist die Leerstelle zwischen zwei Worten in die das Denken taucht Sie ist der Anfang vom Anfang oder der Aufsprung einer inneren Katze gegen die Wirklichkeit Sie fährt ihre Krallen aus gegen das verbeamtete Deutschland Sie ist ein Aufstand der Leidenschaft gegen die Fahrpläne der Bildung in denen der Staat die Auswahl der Gedanken normiert Anarchie ist die Karambolage auf den Straßen der Gelehrsamkeit eine Katastrophe in den Schablonen der Interpretation Anarchie ist sinnliche Praxis Ein Bluterguß am Kopf der Normalität Anarchie ist Bewegung

Anarchie ist Bewegung freies Spiel der Gedanken Revolte der Poesie gegen das lineare Denken Zuversicht die hinter den Ohren flutscht oder eine Seifenkiste in der die Sprache die Hügel der Kriegsgräber hinabfährt Anarchie spuckt auf das Heldentum freiwilliger Selbstunterwerfung unter die Herrschaft und auf die Prophezeiungen der Politik Sie speit auf den Nationalgedanken in dessen Namen der innere Soldat ins äußere Regiment umschlägt Nein Anarchie stößt die Palette um auf der sich Nationalfarben in Gesinnungen verwandeln Anarchie küsst sich frei

Anarchie küsst sich frei durch die Holzwege der Tagesschau auf denen sich die euro nationale Masthaltung der Wähler zur Meinungsbildung objektiviert Anarchie holt die Nachrichtenkutscher vom Kutschbock der Wahlstatistik herunter Anarchie verknotet die Fernsehkanäle zu Geschenkschleifen und zieht den Stecker raus Anarchie bindet Wahrheiten zu Blumensträußen und lacht an gegen Werbemacher Wahlforscher und Strategen denen ihr aus Fangquoten destillierter Zeitgeist abrutscht und als Kronkorken in die Auffangschalen der Lottoziehung fällt Anarchie braucht keine Ersatzmittel Steigbügelhalter des Daseins Stützmieder oder Körperkorsetts Hosenträger

Anarchie braucht keine Hosenträger keinen Tragegurt der irgendwelche zu Legislaturperioden zusammengewebten Versprechen als kurzbeinige Hosentracht am Bierbauch der Konventionen festhält Nein Anarchie löst die Halterungen der Wirklichkeit und lässt sie zu Boden fallen Anarchie verwandelt Konventionen in Stangenlakritz Anarchie: wie Wind der durch die Hosen fährt oder ein Schlag auf die lichtbespannten Trommeln der Vorstädte gegen den Rhythmus der Ampelanlagen vor denen der blondierte Alltag seine Gewohnheiten zum Blindflug formiert

Ralf Burnicki