Wand, von: Ingeborg Denner

Manchmal starrte sie die Wand an, und die Wand starrte zurück, weißer dort, wo die Fotos gehangen hatten, dunkle Ränder drumherum. Sie hätte sprechen können. Es hätte die Wand nicht gestört. Wahrscheinlich nicht. Aber die Mühe, den Mund aufzumachen und Worte zu formen, war zu groß. Das Ergebnis nicht wert. So überließ sie sich ihren Gedanken, die nicht in Worten kamen, sondern in vagen Flecken von grau, weiß und gelblich.
Keine Worte.
Unten gingen Menschen hin und her. Sie redeten. Ihre Laute klangen so sinnlos wie ihr Umhergehen. Keiner kam hinauf in das Zimmer. Keiner erinnerte sich mehr, wann die Frau aufgehört hatte zu reden. Vielleicht hatte keiner es bemerkt. Ihr Herumgehen machte zuviel Lärm.
An den Wänden, wo heute die Flecken waren, waren Fotos gewesen. Sie hatte sie abgenommen, als sie eines Tages bemerkt hatte, daß die Fotos keine Bedeutung hatten. Das war nach der Zeit gewesen, als sie die Möbel herausgeräumt hatte, jeden Tag ein Stück, das sie nicht mehr brauchte. Niemand hatte gefragt, warum sie das tat. Alle wußten, daß sie nicht redete. Eine Verrückte, die nicht redete, tolerierten sie.
Sie starrte die Wand an, und die Wand, alle Illusionen von ihr genommen, starrte zurück. Schatten wanderten über sie und Fliegen.
Und doch sprach die Wand alle Tage, sprach mit schwarzem Edding, aus einer Zeit, als die Frau noch an Worte geglaubt hatte.
Ich will versuchen, es zu sagen… sagte die Wand. Die Pünktchen dahinter, die in eine Zukunft von Worten hatten deuten sollen, verloren sich in Richtung des Fußbodens. Die Wand beendete ihren Satz nicht. Und die Frau, verloren in ihrer leichten, weißen, stillen Höhe, war schon lange von allen Worten verlassen, mit denen sie es selbst hätte sagen können.

Ingeborg Denner