Spaziergänge am neuen Kanal, von: Ingeborg Denner

1.
Heute brach das Eis auf dem Kanal, von unter dem Wasser her raschelte und flüsterte es. Das sind die Leute, ich kenne ihre Namen nicht, sie leben unter dem glattschwarzen Wasser, sie flüstern und schieben Eisschollen gegeneinander. Sie freuen sich, sonst würde man sie nicht hören. Manche von ihnen haben menschliche Gesichter. Wenn man auf einer der Eisschollen steht, sieht man, wie sie von unten herauf schauen. Ihre Augen leuchten grün und gelb und blauweiß wie Sterne, wie Lichtreflexe auf dem Eis. Die meisten Lichtreflexe sind Augen. Es ist besser, nicht hinzusehen.

2.
Das Eis trieb heute schon in feingeschlagenen Schollen in die Dunkelheit. Es schwieg, doch von irgendwo in der Dunkelheit unter dem gelben Licht hinter mir kam ein Krachen, ein Mahlen von gewaltigen Kiefern. Ich blieb stehen und sah zurück. Da war nichts bis auf ein einzelnes rotes Auge fern in der Dunkelheit. Das Mahlen wurde lauter, und die Schollen setzten sich in Bewegung, langsam erst, dann schneller und schneller dem Geräusch zu. Ich dachte, das Kraftwerk, das wie ein schweigender Riese am Rand des Kanals hockt, habe seine gefräßigen Tore geöffnet und stählerne Zähne gezeigt, die das Eis zu Schnee bissen, um sein heißes Herz zu kühlen. Aber das Mahlen wurde lauter, die Eisschollen trieben schneller jetzt, als ich gehen konnte. Nichts war zu sehen, nur das rote Auge, das nicht näher zu kommen schien. Ich blieb stehen. Und dann schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit, ein Ungetüm, ein Drache, dachte ich, aber es war keiner, denn Drachen sind aus Feuer und Luft gemacht, nicht aus Stahl und Eis wie dieses Ding. Sein Mahlen wurde ohrenbetäubend, und die Eisschollen schrieen, als sie sich in seinen Rachen stürzten. Dann war es vorbei, ließ eine Spur schwarzen Wassers zurück. Ich ging weiter. Ich glaube nicht, daß es Menschen angreifen würde, aber ich bin froh, daß es mich nicht gesehen hat.

3.
Da, wo jetzt die Betonbrücke in einem breiten, flachen Bogen den Kanal überspannt, kalt im gelben Licht, war früher eine andere Brücke, eine aus roten Ziegeln gemauerte Brücke, die nach Feuchtigkeit und Moos roch. Vielleicht war diese Brücke auch woanders, das spielt keine Rolle. Es war eine schöne Brücke, und es gibt sie nicht mehr. Ihr Brückentroll, heimatlos und vergessen, sitzt unter dem Betonbogen, da, wo das gelbe Licht nicht hinkommt. Neben sich hat er eine Flasche und eine Plastiktüte. Er erinnert sich nicht, ein alter Troll unter dem Gespenst einer Brücke. Als ich gestern heimging, traf ich eine Frau, die ich vielleicht kannte, sie trat aus dem Gebüsch entlang des Weges, und wir gingen zusammen weiter und sprachen über dies und das. Unter der Brücke hob der Troll sein Gesicht, als wollte er den Wegzoll von uns verlangen. Sie griff in ihre Tasche und zog eine Golddublone hervor, die sie ihm gab. Er ließ uns passieren. Am nächsten Tag war er fort. Vielleicht hat er seine Brücke wiedergefunden.

4.
Im Frühjahr schwimmen Enten auf dem Kanal und Kohlenschiffe. Die Geschichten sind, ebenso wie die flüsternden Leute, die Drachen und Erinnerungen, vor der Sonne tief ins dunkle Wasser geflohen. Die Enten und die Kohlenschiffe wissen nichts von ihnen.

5.
Ein anderer Kanal brach, als er noch gebaut wurde. Er führte hoch übers Land und goß das Wasser zweier Flüsse auf es aus. Es floß hinunter in die Stadt, die in ihrer eigenen Senke liegt, sie hat sich selbst den Boden abgepumpt, der aus Salz war, fünfhundert Jahre lang, bis ihre bunten Häuser an den gewundenen Straßen Bäuche bekamen. Jetzt standen sie bis zum Bauch im Wasser. Das Wasser versickerte im Laufe einer Woche, nach unten, in die großen, hohlen Räume, ausgewaschen im Salz. Ich stelle mir vor, wie Salz sich im Wasser löst und die Stadt, schwimmend, unter den Schritten zittert.

Ingeborg Denner