Fade to grey, von: Ingeborg Denner

Alles erschien ganz normal, als Annette an diesem Morgen erwachte. Hätte sie gewußt, daß es der letzte solche Morgen sein würde, hätte sie ihm vielleicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt. So sah sie nur etwas mißvergnügt auf das strahlende Sommerwetter draußen, makellos blauer Himmel und die Bäume am Fluß wie grüne Wolken. Ein schöner Tag zum Draußensein, ein ganz schlechter, um im Arbeitszimmer zu sitzen und endlose Listen von Daten einzugeben und zu vergleichen, Listen, deren Sinn ihr auch nach drei Jahren dieser Arbeit nicht klar geworden war und die nie weniger zu werden schienen – aber der Mensch mußte leben. Und so tat sie, was sie jeden Morgen tat, kochte sich Kaffee, schlurfte zum Rechner und ließ die Jalousien vor dem Fenster herunter, um das Licht auszusperren, das ihre Augen müde machte.
Login: Annette Jantzen
Passwort: ********
Routine.
Nicht so die Meldung: login incorrect. Verwirrt sah sie auf den Bildschirm. Das war ihr in all den Jahren voller Listen noch nicht passiert. Sie tippte erneut.
Login incorrect.
Das gab es doch nicht. Fünf Versuche später gab sie es auf. Die Versuchung, diesem Fingerzeig des Schicksals zu folgen und Arbeit heute Arbeit sein zu lassen, war groß. Aber Pflichtbewußtsein siegte (ach was Pflicht, sie brauchte den Job), und so zog sie sich das Telefon herüber, um bei der Firma anzurufen und das Problem zu schildern. Wenn sie wirklich großes Glück hatte, dachte sie, würde die Fehlerbehebung den ganzen Tag dauern.
Nach einem dreimaligen ‚Bitte haben Sie einen Moment Geduld’ hörte sie endlich die vertraute, muffelige Stimme ihres Chefs. Er war immer muffelig, wenn sie anrief. Wahrscheinlich, weil ihre Anrufe Arbeit für ihn bedeuteten. Sie war auf sein Gemuffel vorbereitet gewesen, aber nicht auf die Antwort, die sie erhielt. „Jantzen? Haben wir hier nicht. Sie müssen die falsche Nummer haben.“
Sie versuchte, ihn an sie zu erinnern, wurde schließlich mit dem Klacken der Tastatur belohnt, als er auf ihr Drängen in die Personalliste schaute. „Gibt’s hier nicht, Fräulein.“
Nach ihrem dritten Anruf schnauzte er, sie solle endlich aufhören, anzurufen, er arbeite seit sechs Jahren hier, und eine Annette Jantzen sei noch nie in seiner Abteilung gewesen.
Sie überlegte, ob sie ihn an Details der letzten Betriebsweihnachtsfeier erinnern sollte, beschloß aber, daß ihn das nicht freundlicher stimmen würde. Sie starrte noch eine Weile auf den tutenden Hörer und zuckte dann die Schultern. Sie hatte sich schließlich einen freien Tag gewünscht, und dieser skurrile Grund war so gut wie jeder andere. Morgen würde sich alles aufklären, tröstete sie die nagende Beunruhigung in ihrem Hinterkopf.

Als sie die Jalousie aufzog, um nach draußen zu sehen, hatte der Himmel eine leicht weißliche Färbung angenommen, und die Schatten wirkten tiefer. Wahrscheinlich würde es ein Gewitter geben.
Trotzdem. Sie zog ihre Schuhe an, nahm ihre Handtasche und ging hinaus. Sie würde den freien Tag feiern, indem sie sich irgendeinen kleinen Luxus gönnte. Eine neue Bluse vielleicht, oder einen Eisbecher. Ein Blick in ihr Portemonnaie ließ es geraten erscheinen, beim Geldautomaten vorbeizugehen, ehe sie sich in einen kleinen Kaufrausch stürzte.
Bitte geben Sie Ihre Karte ein.
Piiep. Karte ungültig. Bitte wenden Sie sich an Ihre kartenausgebende Stelle.
Hatten sich denn heute all diese verdammten Maschinen gegen sie verschworen? Sie versuchte einen anderen Automaten. Dann eine andere Bank, während der Tag älter wurde und die Hitze die Farben der Stadt bleichte. Zumindest nahm sie an, daß es die Hitze war, wenn auch die Luft auf ihrer Haut sich nicht anfühlte wie die Luft eines Sommertages, der heiß genug ist, das Rot aus einer Coca-Cola-Reklame zu brennen. Eher kühl, irgendwie blaß. Sie merkte, daß sie sich nach einer warmen Dusche sehnte. Aber erst mußte sie diese Angelegenheit mit ihrer Karte in Ordnung bringen.
Es brauchte Überwindung, die Schalterhalle zu betreten. Seit sie Heimarbeit machte, regelte sie auch ihre Geldangelegenheiten vom Computer aus. Über ein Jahr hatte sie keinen Angestellten der Bank mehr gesehen.
Seither war die Halle renoviert worden, an die Stelle von 60er-Jahre-Holzimitat und 70-er grünem Teppich war monochromatisches 90-er Stein-Glas-Metall-Design getreten. Mit einiger Mühe gelang es ihr, die Frau am Informationsschalter auf sich aufmerksam zu machen, und als sie begann, ihr Problem zu schildern, schickte die Frau (ein Schildchen an ihrem Revers wies sie als ‚Frau Tetzel – Kann ich Ihnen helfen?’ aus) sie zu einem der hinteren Schalter. Annette schaute auf ihr Spiegelbild im taubengrauen Glas des Schaltertisches, während eine weitere Frau (‚Frau Scheumann’ – kein ‚Kann ich Ihnen helfen’) Annettes EC-Karte ein paar Mal durch ihre Testapparatur zog, den Kopf schüttelte und begann, ihre Tastatur zu bearbeiten.
Das Spiegelbild, durch das die metallenen Tischbeine zu sehen waren, wirkte eigenartig immateriell. Annette sehnte sich plötzlich nach einem leuchtenden, geschmacklosen Grün oder Orange. Die Klimaanlage in der Schalterhalle war zu kalt eingestellt. Sie fror.
Frau Scheumann schüttelte erneut den Kopf und sah Annette an – oder eher durch sie hindurch, Annette fiel auf, daß sie einen leichten Silberblick hatte – und sagte „Es tut mir sehr leid, Frau – “ – sie sah auf die Karte – „Jantzen, aber ich finde Sie nicht in unserem Computer. Sind Sie sicher, daß Ihr Konto bei uns noch besteht?“
„Hätte ich sonst die Karte?“
Frau Scheumann denkt nach.
„Vielleicht“, will Annette helfen, „ich meine, ich hatte Homebanking und so… vielleicht…“ Aber sie wußte nicht wirklich, was sie sagen wollte. Frau Scheumann sah auf die Uhr (Vier Uhr durch) und wartete offensichtlich sehnsüchtig auf ihren Feierabend, und so ging Annette, begleitet von Versicherungen, daß sich alles aufklären würde. Irgendwie gelang es ihr nicht mehr, daran zu glauben.

Draußen war es kälter geworden – oder kam es ihr nur so vor? Der Himmel war jetzt ganz weiß, und Autos und Häuser wirkten wie mit Staub übergossen. In den Straßen war es dunkler, als es ein Recht hatte, unter diesem schattenlosen Himmel zu sein. Ohne Zweifel zog da der Großvater aller Gewitter auf, und Annette beeilte sich, nach Hause zu kommen. Was für ein Tag. Eine Dusche. Ein Glas Rotwein. Ins Bett. Und hoffen, daß morgen alles vorbei sein würde.
An der Kreuzung Danziger Straße sah ein linksabbiegendes Auto sie zu spät, das Quietschen von Bremsen schreckte sie aus ihren Gedanken, der Fahrer riß das Lenkrad herum und knallte gegen einen silbermetallicfarbenen Benz, der an der Ampel gewartet hatte.
Annettes erste Überlegung war, den Unfall zu ignorieren. Der Tag war die Hölle gewesen, und noch mehr Ärger war das letzte, was sie brauchte. Aber sie wußte nicht, ob das nicht Unfallflucht sein würde, und die Autofahrer mußten sie beide gesehen haben, so setzte sie sich auf den Kantstein und wartete auf die Polizei.
Sie hätte es besser wissen müssen, dachte sie eine halbe Stunde später. Die Polizisten waren gekommen, hatten den Unfall und die Personalien aller Beteiligten aufgenommen, die Ausweise überprüft, und dann war ihr Blick an Annette hängen geblieben. „Ihr Ausweis ist abgelaufen.“ War er? Annette war sich nicht sicher. Der Polizist war wieder im Wagen verschwunden, Annettes grüne Ausweiskarte in der Hand. Als er wieder auftauchte, war er nicht mehr freundlich und forderte Annette auf, mitzukommen.
Auf der Polizeiwache fragte man sie nach ihrem Wohnort, ihrem Arbeitsplatz, ihrem Geburtsort. Sie gab über alles Auskunft, aber erkannte in ihren Gesichtern, daß sie ihr nicht glaubten. Dann saß sie in einer trostlosen, grauen Kammer. Annette Jantzen. Ein Name, den niemand kannte.
Niemand kam, um ihr zu sagen, daß sie bleiben sollte oder gehen konnte. Abendessenszeit mußte bereits vorbei sein, aber sie hatte keinen Hunger. Annette Jantzen. Ein Name, der nicht existierte.

Reine Verzweiflung trieb sie, aufzustehen. Wenn sie nicht existierte, gab es keinen Grund zu bleiben. Sie ging unbehelligt hinaus, am Pförtner vorbei. Das Weiß des Himmels war dunkler geworden. Über staubgrauen Wiesen ging sie nach Hause, die Bäume am Fluß wie Reflektionen in taubengrauem Glas. Hellgrauer Asphalt.
Als sie endlich vor ihrer Haustür stand, war sie verwundert, noch ein Spiegelbild im Glas der Tür zu haben. Ihr Kopf war leicht. Sie suchte nach ihren Schlüsseln und fand sie nicht. Durch das halboffene Fenster der Hausmeisterin dröhnte ein Fernseher. Sie klingelte, und die Frau öffnete.
„Ich habe meine Schlüssel vergessen“, sagte Annette. „Könnten Sie mich bitte hereinlassen?“
Ein mißtrauischer Blick.
Annette spürte, wie ihre Worte in die klanglose Luft fielen, aber dennoch sagte sie: „Ich bin Annette Jantzen. Vom dritten Stock.“
Die Hausmeisterin sah sie an, durch sie hindurch. „Ich weiß nicht, wer sie sind – aber die Mieterin vom 3. Stock ist vorige Woche gestorben.“
Die Tür fällt zu. Der Himmel ist schwarz geworden. Und in dem Licht einer einzelnen Straßenlaterne wirft die Frau, die darunter steht, keinen Schatten.

Ingeborg Denner