Stangls letzter Seufzer, von: Robert Martschinke

Stangl wußte zu viel.
Meistens weiß man ja eher zu wenig. Irgendwo hatte er vor Jahren mal gelesen, Informationen seien die Währung des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Dann war er jetzt reich.
Aber Stangl wußte das kleine bißchen Falsches zu viel.
Er hatte die Fotos gesehen.

Noch sechs Wochen bis zur Kommunalwahl. Für die CDU – die in der Stadt fast schon Gewohnheitsrecht genoß – sah es diesmal nicht gut aus. Nach der Scheiße, die Schwarz-Gelb in den letzten Jahren in Berlin verkocht hatte, waren zur Zeit republikweit wieder die Sozen auf dem Vormarsch. Die Landtagswahl hatten sie schon im letzten Jahr gewonnen. Jetzt kamen peu á peu die Kommunen dran.
Das Ganze war Romperts Idee gewesen. Karl-Heinz Rompert, stellvertretender Polizeichef, alter Intimus des noch regierenden Oberbürgermeisters Winfried Lutter, CDU, mit Betonung auf „noch“. Die Idee war ihm angeblich gekommen, als er sich „Die Unbestechlichen“ mit Dustin Hoffman und Robert Redford im Fernsehen angesehen hatte.
Was, wenn in die Wahlkampfzentrale der CDU eingebrochen würde? Und zeitgleich in Lutters private Villa? Eine solche kombinierte Aktion konnte doch nur vom politischen Gegner kommen. Außerdem fürchtete Lutter in letzter Zeit permanent und nicht ganz zu Unrecht, daß die Steuerfuzzis von den Finanzbehörden („seinen“ Behörden, wie er säuerlich bemerkte) sich für die Parteifinanzen interessieren könnten. Da könnte bei der fingierten Einbruchaktion auch noch einiges verschwinden, was besser nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen sollte.
Lutter selbst würde von der Aktion im Vorfeld nichts erfahren. Und auch keiner aus seinem Wahlkampfteam. Lutter war ein schlechter Schauspieler. Seine Empörung nach den Einbrüchen musste echt aussehen. Wenn er am Tatort in die Kameras und Mikrophone sprach, musste er sich nicht nur für ein Opfer halten, sondern sich auch wirklich wie eins fühlen. Daß das Ganze fingiert war, würde er erst später erfahren.
Für den Einbruch in die Wahlkampfzentrale hatte Rompert ein paar Vertrauensleute aus seinem eigenen Ressort destiniert. Ein Typ von der Spurensicherung würde dabei sein und gezielt falsche Spuren am Tatort hinterlassen. Der Einbruch in Lutters Villa war ein One-man-job. Und hier kam Stangl ins Spiel.
Ernst Stangl, achtzehn Jahre bei der Kripo, erst im BTM-Ressort, dann bei der Inneren, war mit Rompert auf Du und Du, seit er für ihn ein internes Drogenscreening gefälscht hatte. Rompert zog gerne mal ’ne Linie. Stangls Ehe ging zu Bruch, wie sich das für einen kleinen Kripo-Beamten gehört, er fing an zu saufen (was er auch schon vorher getan hatte), und irgendwann war ihm die filmreife Idee gekommen, den Dienst zu quittieren und sich selbstständig zu machen. Der Philip Marlowe der Domstadt. Leben konnte man davon kaum. Er machte Fotos von mißliebigen Betriebsratsvorsitzenden, die sich auf seine Vermittlung hin in schmierigen Hotels im Nebenzimmer mit zwei minderjährigen ukrainischen Zwangsprostituierten vergnügten. Er verkaufte Abzüge der Fotos weiter an die betrogenen Eheweiber, damit die bei der Scheidung eine höhere Abfindung herauspressen konnten. Nebenher importierte er in einem ausrangierten Streifenwagen mit falschem Kennzeichen und in seiner alten Uniform Gras aus den Niederlanden. – Ein Wahnsinn. Er schrieb es einzig und allein seinem Glück zu, daß sie ihn noch nicht erwischt hatten.
Rompert steckte Stangl den Plan: Er würde dafür sorgen, daß in besagter Nacht niemand zuhause sein würde. Das Alarmsystem würde lahmgelegt, indem man einfach dem ganzen Anwesen für ein paar Stunden den Saft abdrehte. Stangl würde durch ein Fenster im Wintergarten einsteigen, alle für einen gewöhnlichen Dieb interessanten Wertgegenstände ignorieren und nur in Lutters privatem Arbeitszimmer ein bißchen Tohuwabohu veranstalten: ein paar Schubladen durchwühlen (und offen stehen lassen, bitteschön), ein paar Aktenordner kreuz und quer auf den Boden schmeißen, und wenn das noch nicht dramatisch genug aussah (man musste ja auch an die Pressefotos vom Tatort denken), dann eben noch ein paar Bücher aus dem Bücherschrank dazuwerfen. Aber bitte was Ordentliches, ja? Thomas Mann oder so. Oder Goethe. Bloß keine Tittenhefte. Rompert wußte, was Lutter im Schrank stehen hatte. Alles in allem eine konzentrierte Aktion, maximal fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten, rein, bißchen pröddeln, raus, zack, bumm, fertig. Wert: zehntausend, bar auf die Hand. Und außer ihm, Rompert, würde keiner wissen oder jemals erfahren, wer die Aktion durchgeführt hat.
Zehntausend, in bar. Risiko null.
Zehn Tage, achtzehn Stunden und zweiunddreißig Minuten später stand Stangl in Lutters Villa in Lutters privatem Arbeitszimmer und ließ noch einmal den Strahl seiner Taschenlampe über das Chaos gleiten, das er in den letzten sieben Minuten angerichtet hatte. Die Schreibtischschubladen waren alle herausgezogen (den Inhalt der unteren – Kugelschreiber, Textmarker, Bleistifte, Radiergummis – hatte er gleich auf den Teppich gekippt), ein Dutzend Aktenordner – manche aufgeklappt, mit dem Rücken nach oben – lag im Raum herum, dazu ein paar Bücher (kein Mann, kein Goethe – aber er hatte Brecht gefunden, Mutter Courage, sieh an, warum nicht?), und beinahe hätte er der Versuchung nicht widerstanden, auch eine Ausgabe von Private Triple X dazuzulegen, von denen er ein halbes Dutzend in einem Großbriefumschlag gefunden hatte, dachte dann aber an die Eins mit den vier Nullen und ließ es bleiben. Er überlegte gerade, ob er noch den Schreibtischstuhl umkippen sollte, da fiel sein Blick auf die schwarze Holzkiste auf dem Couchtisch. Neben der Kiste stand ein sauberer Aschenbecher aus Bleikristall, und in dem Aschenbecher lagen ein Zippofeuerzeug und ein Zigarrenspitzencutter.
Hallo, dachte Stangl. Ging zum Tisch. Klappte die Kiste auf. Leuchtete hinein. Hielt die Nase darüber und schnupperte. Cohibas. Zwei oder drei Dutzend. Einzeln mit Blattgold umwickelt. Ein wirklich schönes Souvenir, dachte Stangl. Und dachte auch brav: Dankeschön, Herr Oberbürgermeister.

Wieder zuhause – es war mittlerweile kurz vor vier Uhr morgens – goß sich Stangl den ersten Schnaps seit achtzehn Monaten ein. Bloß um runterzukommen. So fing das ja meistens an: das Adrenalin wegspülen, das erst nach Ende des Einsatzes richtig zu fließen beginnt. Bis man irgendwann alles nur noch wegspült. Stangl trank und goß nach. Jeder Rückfall hat eine Geschichte, hatte ihm ein Therapeut mal erklärt. Stangl goß nochmal nach. Dann klappte er die schwarze Holzkiste auf, die vor ihm auf dem Küchentisch stand. Im Funzellicht der Küchenlampe funkelten die vergoldeten Zigarren wie Weihnachtsgeschenke. Stangl nahm eine heraus, wickelte sie aus (wobei er sorgfältig darauf achtete, das Blattgold nicht zu zerreißen) und hielt sie unter die Nase. Wow. Baby. Er ärgerte sich, daß er den Cutter nicht mitgenommen hatte, dachte: scheiß drauf und biß die Spitze mit den Zähnen ab. Spuckte sie in den Ausguß. Zündete die Zigarre mit seinem Einwegfeuerzeug an und rauchte.
Zufriedenheit ist ein seltenes Gut. Stangl genoß es.
Er rauchte die halbe Zigarre, dann ließ er sie ausgehen. Betrachtete die offene Kiste. Jeweils fünf Zigarren nebeneinander, obenauf noch zwei, darunter vielleicht noch fünf Lagen, machte noch siebenundzwanzig Stück. Stangl beschloß, nachzuzählen. Er nahm die Cohibas eine nach der anderen aus der Kiste und arrangierte sie in Fünfergruppen auf der Tischplatte. Offenbar hatte er richtig geschätzt. Beziehungsweise nicht ganz. Denn als er bei der letzten, unteren Lage angekommen war, mußte er feststellen, daß diese nur aus vier Zigarren bestand. Die mittlere fehlte. Stattdessen lag dort ein USB-Stick. Scheiße, dachte Stangl. Nicht gut. Er hatte gedacht, er hätte nur etwas teures Rauchwerk mitgehen lassen. Und jetzt das.
Er nahm den Stick heraus. Wieso lag der in der Kiste? Bestimmt nicht, weil jemand eine Cohiba gemopst hatte und den Klau vertuschen wollte.
Stangl goß nach. Stangl goß nochmal nach. Stangl zündete sich eine Zigarette an.

Stangl dachte nach.
Er hatte etwas Unordnung machen sollen, aber bloß nichts mitgehen lassen. Er dachte an die Eins mit den vier Nullen, steuerfrei. Er dachte an Rompert. Er dachte an Lutter. Er kannte Lutter. Flüchtig, aber gut genug, um zu wissen, daß er ein Schwein war. Nur Schweine werden Oberbürgermeister.
Er konnte den Stick einfach vernichten. Vielleicht war er ja auch nur zufällig in die Kiste gelangt und dann nach unten durchgerutscht, irgendwie. Vielleicht war er ja auch leer.
Quatsch, dachte Stangl. Quatsch, Quatsch, Quatsch. Goß nach. Alles Quatsch. Zündete sich noch eine Zigarette an. Andersherum: Vielleicht waren ja wirklich irgendwelche Daten auf dem Speicherding, die sich eventuell zu Geld… anonym… Außer Rompert wußte schließlich keiner, daß er, Stangl, den Bruch, den gefaketen Bruch, wohlgemerkt, bei Lutter durchgezogen hatte.
Leck’ mich am Arsch, dachte Stangl, nahm die Flasche und den Stick und ging ins Wohnzimmer, wo sein Laptop auf dem Couchtisch stand.

Er hatte die Fotos gesehen. Es waren hunderte. Er hatte sie nicht gezählt. Zum ersten Mal, seit er mit dem Saufen aufgehört (und gerade wieder angefangen) hatte, hatte er gekotzt.
Er überlegte, was er tun könnte. Zu wem er gehen könnte. Wohin mit der Scheiße.
Draußen ging die Sonne auf.
Dann klingelte es an der Wohnungstür.
Auf allen Fotos waren Kinder zu sehen. Manche waren fast noch Babys.
Auf einigen Fotos waren die Kinder allein. Manchmal mit einem Spielzeug. Auf anderen – der Mehrzahl – war ein Erwachsener dabei. Bei einigen auch mehrere.
Ein paar der Kinder waren gefesselt. Auf vielen Fotos sah man Blut und andere Körperflüssigkeiten.
Die Erwachsenen – mehrheitlich Männer – kannte Stangl fast alle persönlich. Allerdings hatte er sie noch nie nackt gesehen.
Es klingelte wieder. Stangl ließ es klingeln. Dann hörte er, wie die Tür leise von außen aufgeschlossen wurde.

Sie waren zu Dritt. In Zivil. Im Dienst trugen sie Uniformen.
Einer von ihnen war Rompert.
Stangl sah ihn an, und Rompert schüttelte traurig den Kopf.

Stangl wußte zu viel. Komisch, dachte er noch, daß genau das mal wieder keiner erfahren würde.
Die meisten Menschen wissen ja eigentlich zu wenig. Wenn sie wüßten, was sie wissen sollten, dachte Stangl, stünde hier kein Stein mehr auf dem anderen.
Rompert streichelte ihm mit beiden Händen die Wangen. Dann ließ er die Hände nach unten gleiten und drückte zu.

Robert Martschinke