Monster wie wir, von: Ingeborg Denner

Die Frau saß in einer Ecke der schäbigen Taverne, und ein Blick reichte, um alles über sie zu erfahren, was es zu wissen gab. Eine Söldnerin war sie, aus den barbarischen Ländern im Westen, ohne Anstellung und in Schwierigkeiten. Das Schwert, das sie wie selbstverständlich an ihrer Seite trug, war im Stil der westlichen Länder, der unverzierte Griff mit abgenutztem Leder umwickelt. Sie war groß und hellhäutig, wie die Leute des Westens es waren, doch sie trug nicht die Farben eines der Kriegerclans. Seit Wochen saß sie hier, trank den billigsten Branntwein, jede Woche ein bißchen mehr, während draußen die schlammigen Straßen trockneten und die Zeit für Karawanen und Kriege begann. In ihren braunen Haaren waren Strähnen von grau und um ihre Augen Falten: Sie war alt in einem Beruf, in dem Jugend und Stärke alles waren, hatte weder einen sicheren Posten ergattert, noch war sie, beladen mit der Beute erfolgreicher Feldzüge, in ihre barbarische Heimat zurückgekehrt. Jetzt hob sie den Krug vor sich, um Branntwein nachzuschenken, fand ihn leer, und für einen Moment huschte Verzweiflung über ihre Züge.
Der Beobachter blies über das Wasser in der Schale, die vor ihm stand, und das Bild verschwand. Diese Frau war genau das, was er brauchte. Er rief nach einem der Novizen.

Der Novize in seinen rostfarbenen Roben blinzelte in die Dunkelheit der Taverne. Der Tag draußen war so hell und sonnig, wie ein perfekter Tag im Frühling es nur sein konnte, und die Luft roch süß nach Blumen. Dagegen war es hier drinnen so dunkel wie am Tor zur Unterwelt, und der Geruch, dachte er sich, schales Bier, billiger Schnaps und ungewaschene Körper, tat das seine zu diesem Eindruck. Endlich schälten sich Gestalten und Umrisse aus der Dunkelheit, und er erinnerte sich selber streng an seinen Auftrag, sammelte seinen Mut und machte sich auf den Weg hinüber zu dem Tisch und der Frau, die ihm beschrieben worden war.
Sie sah auf, als er näher kam, wachsamer und weniger betrunken, als er erwartet hatte.
„Meine Dame–“, seine Zunge wollte über die Anrede stolpern, die ihr offensichtlich nicht zustand, aber man hatte ihn gelehrt, höflich zu sein, und es gab ihm ein gewisses Gefühl von Großzügigkeit — „ich bin Artel Mojidan, Novize des Tempels der Drei. Mein Herr wünscht, mit Euch zu sprechen.“
Wachsamkeit in ihren Augen, Besorgnis und Hoffnung zugleich. Sie war natürlich eine Barbarin und Heidin, die zu den Geistern ihrer Ahnen betete, aber die letzten Kreuzzüge gegen Heiden und Häretiker lagen fast ein Menschenalter zurück. Seine Anwesenheit versprach einen Auftrag, ein weiteres Jahr zwischen ihr und der Bettelschale, eine weitere Hoffnung auf Reichtum.
Sie nickte knapp, stand auf und warf einen Kupferpfennig auf den Tisch, Trinkgeld für die Bedienung und ein Opfer, eine Bestechung für die Alte Hexe Glück, ehe sie ihm aus der Taverne hinaus in den hellen Tag folgte.

Die langen Gänge des Tempels hielten noch die Kühle des Winters, doch durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht auf den kalten Steinboden. Der Gesang der Vögel in den Gärten und der Geruch nach Blüten füllten die Luft. Die Söldnerin wirkte nervös. Gewiß fragte sie sich, warum ein Priester sich mit heidnischen Söldnern abgab, wo doch der Tempel über Bewaffnete verfügte und sogar über ein kleines Kontingent an Tempelrittern. Doch der Tempel war auch reich, und der Söldner, der nicht geldgierig war, mußte noch geboren werden. So folgte sie dem Novizen, bis er vor einer unscheinbaren Tür stehen blieb und ihr bedeutete, hindurchzugehen. Als sie an dem Novizen vorbeitrat, schwangen die Türflügel von selber auf. Abergläubisch wie alle Barbaren griff sie nach dem Amulett, das sie um den Hals trug, ehe sie vorwärts ging. Hinter ihr fiel die Tür zu.
Der Raum war ein bescheidener Empfangsraum, der weder von Macht noch von Reichtum sprach. Dennoch begaffte die Söldnerin, offensichtlich beeindruckt, die gewebten Wandteppiche, die Kerzenhalter in Form exotischer Blumen und betastete neugierig den kleinen Brunnen, der das Zimmer mit dem sanften Geräusch von fließendem Wasser füllte.
Als der Priester den Raum betrat, fuhr sie herum. Aus ihrer Haltung sprach Wachsamkeit, und wenn die Bewegung ein wenig langsamer war, als sie es vor zehn Jahren gewesen sein mochte, waren ihre Pose und Haltung immer noch perfekt. Sie mußte einmal sehr gut gewesen sein.
Der Priester lächelte milde. „Lazarir Tikayami, Tochter von Davira, seid mir willkommen. Mein Name ist Talenn Sirdd, Gelehrter des Tempels der Drei“ — er deutete auf seine dunkelrote Robe, die Farbe eines Gelehrten, ein Hinweis, der an sie verschwendet sein mochte — „und ich habe einen Auftrag für Euch. Bitte setzt Euch.“
Die Nennung ihres vollen Namens schien die Söldnerin noch wachsamer gemacht zu haben. Sie verneigte sich weniger tief, als es einem Priester, selbst einem bloßen Gelehrten gegenüber, angemessen war, und ließ ihn nicht aus den Augen, während sie sich setzte.
„Es ist meine Pflicht, darauf hinzuweisen“, sagte sie, „daß ich kein Mitglied der Gilde bin.“
Er hatte nichts anderes erwartet. Die Gilde schützte die ihren vor betrügerischen Auftraggebern, betrieb Hospize und zahlte Lösegelder, aber für den Zehnten, den sie erhoben, konnte jemand, der nicht anspruchsvoll war, einen Monat lang Vergessen in einem Weinkrug finden. Mit einer wegwerfenden Geste sagte er, „Ich brauche keinen jungen Muskelprotz mit einer glänzenden Rüstung, einer bunten Gildenmarke und mehr Eifer als Verstand.“ Ihre Erfahrung war alles, was sie hatte. Es war klug, sie zu respektieren. „Ich plane eine Expedition, um ein paar alte Manuskripte wiederzufinden… Man wünscht nicht, daß ich alter Narr ungeschützt reise, und ebensowenig wünscht man, daß ich Gefolgsleute des Tempels wochenlang durch die Wildnis ziehen lasse, wo es keine Ungläubigen und Frevler zu bekämpfen und keinen Ruhm zu gewinnen gibt. Ihr seid eine erfahrene Kämpferin und wart im Kavran-Feldzug Kundschafterin in Hauptmann Askivars Truppe. Ihr müßt Euch darauf verstehen, unnötige Konfrontationen zu vermeiden und notwendige schnell zu beenden.“
Sie nickte fast unmerklich und bestätigte seine Einschätzung ihrer selbst. Dennoch blieb sie vorsichtig. „Ihr scheint eine Menge über mich zu wissen“, sagte sie, als erwarte sie eine Rechtfertigung.
Er nickte lediglich.
„Wohin geht denn die Reise?“
Er beobachtete ihre Züge, als er antwortete. „Zu den Ruinen von Car Lemyl.“
Ihre Augen weiteten sich, als sie zurückfuhr. „Nein. Nein, auf keinen Fall! Dieser Ort… diese Ruinen sind verflucht! Dämonen treiben dort ihr Unwesen…“ Sie schauderte. „Es heißt, die Zauberer, die einst in — an jenem Ort lebten, haben dort einen Schacht gegraben, der zum Grund der Unterwelt reicht. Nein. Ich gehe dort nicht hin. Und Ihr solltet es auch nicht tun!“
„Habt Ihr Angst?“
„Ja!“ schnaubte die Söldnerin. „Und wenn Ihr keine habt, dann habt Ihr zu viel Zeit mit Euren Büchern verbracht, in denen alles so schön und klar und ordentlich aufgeschrieben steht, daß man es nicht fürchten muß!“
Er lehnte sich im Sessel zurück und spielte gedankenverloren mit seinem Becher. Der Aberglaube der Barbaren war sprichwörtlich. „Ich habe viele Jahre lang die Geschichte Car Lemyls studiert“, sagte er, „und laßt Euch versichert sein, daß es dort weder Dämonen gibt noch einen Schacht in die Unterwelt.“
„Car Lemyl liegt an einer Bergflanke im oberen Lemyl-Tal und überblickt die Weißen Fälle des Lemyl“, begann er. „Die Türme, die uns in diesen unsicheren Zeiten so fremd erscheinen, wurden von Astrologen errichtet, von Sterndeutern, die den Willen der Drei aus dem Gang der Gestirne lasen. Das waren fromme und gelehrte Männer. Aber sie waren keine Krieger und bauten keine Festungen, und als vor fünf Menschenaltern Alessa, die Prätendentin, das Recht ihres Stiefbruders Strelan auf den Thron herausforderte, führte sie ihre Armee durch das Lemyl-Tal, und die Sterndeuter flohen nach Westen. In den Jahren des Krieges wurde das Tal entvölkert, und die Türme von Car Lemyl verfielen zu Ruinen.“
Die Söldnerin lauschte gebannt. Ebenso gewiß wie der Aberglaube der Barbaren war ihre Leidenschaft für Geschichten: Mythen aus alter Zeit, Prahlereien des letzten Sommers — es spielte keine Rolle.
„Nach dem Thronfolgekrieg war das Land verwüstet, und die Wachsamkeit der Königsgarde und — leider — auch des Tempels ließen nach. Und so kamen unheilige Wesen aus den Bergen, geflügelte Dämonen und runzlige Hexen mit ihren höllischen Vertrauten; und einfache Leute, die sich vom Glauben der Drei abgewandt und gegen ihre rechtmäßigen Herren empört hatten, liefen ihnen zu. Sie entführten Jungfrauen aus den Dörfern und zwangen sie, an ihren höllischen Riten teilzuhaben, und jene, die sich tugendhaft weigerten, opferten sie den Mächten der Finsternis, damit diese ihnen Schutz gaben und Macht über Sturm und Eis und die wilden Tiere.“
Er sah, daß seine Zuhörerin ihr Amulett umklammerte, und nahm sich zusammen: Er wollte sie anheuern, nicht vertreiben.
„Doch dann bestieg König Hastvan der Gute den Thron. Er setzte den Tempel wieder in seine Rechte ein, und als ihm Kunde von dem unheiligen Treiben in den Ruinen von Car Lemyl zugetragen wurde, zögerte er nicht und schickte eine Hundertschaft Ritter aus, begleitet von sieben der mächtigsten Magierpriester des Tempels der Drei. Die Diener der Finsternis flohen vor ihrer Macht und wurden erschlagen, und die Türme wurden mit Feuer und Bann von allen Machenschaften des Bösen gereinigt. König Hastvan ordnete an, daß noch hundert Jahre lang eine Wache an diesem Ort bleiben und die heiligen Feuer am Brennen halten sollte, damit niemals wieder dunkle Wesen die Türme als ihre Wohnstatt wählen würden. Und die Wache endete, als ich ein Novize war, und niemals ist seither wieder Böses von Car Lemyl gekommen.“
Die Söldnerin wirkte nicht überzeugt. „Man sagt, daß die Dämonen alle sieben Jahre wiedergekommen sind und nach neun mal sieben Jahren den Priester umgebracht haben und alle Ritter und nur einen Knappen am Leben gelassen. Und danach hat man nie wieder von ihnen gehört.“
Das kam der Wahrheit näher, als er geglaubt hatte, daß sie es tun würde, aber die Formeln, die neun und die sieben, die die Barbarin zitierte, verrieten, daß sie ihre Gelehrsamkeit lediglich aus Legenden bezog. „Das ist bei weitem übertrieben“, sagte er. „In den ersten Jahren gab es Scharmützel mit verstreuten Anhängern der Dämonen, aber keiner von ihnen konnte einem Ritter gefährlich werden, geschweige denn einem Priester, den die Macht der Drei schützt.“
„Doch leider“, sprach er weiter, „schätzte man in jenen unruhigen Zeiten die Gelehrsamkeit gering, und so wurden die wertvollen Manuskripte und astrologischen Tabellarien der Sternengucker nicht geborgen. Sie enthalten Weisheit, die uns Nachgeborenen verlorengegangen ist, und mein Wunsch — meine Hoffnung — ist es, sie wiederzufinden und der Bibliothek des Tempels zur Verfügung zu stellen.“
Sie zuckte die Schultern und tat ihr Bestes, um unbeeindruckt zu wirken. „Sei dem, wie es will“, sagte sie. „Ich werde nicht für ein paar verrottete Pergamente zwei Wochen zu einem von Geistern heimgesuchten Ort in einem tückischen Sumpfwald reisen.“
Sie hatten begonnen zu feilschen. „Nicht für die Pergamente“, sagte er. „Für fünf Golddukaten?“
„Nein, kommt überhaupt nicht in Frage…“
Aber sie war nicht in der Position zu handeln, und sie beide wußten es. Sie einigten sich schließlich auf acht Golddukaten, ein guter Preis, und genug, um sie zurück in ihre Heimat zu bringen, wenn sie sparte und sich vom Branntwein fernhielt. Er bezweifelte, daß sie das tun würde, und zahlte ihr nur zögernd zwei Dukaten im voraus.

Zu seiner Überraschung war sie wie vereinbart im Morgengrauen an der Tempelpforte, wenn auch ihre Augen rot unterlaufen waren, ihre Kleidung nach Wirtshaus stank und sie übler Laune war. Zum Glück würden sie auf den ersten beiden Tagen der Reise der königlichen Straße nach Westen folgen und sich dann auf den Pfad nach Norden wenden, und soweit er sich erinnerte, gab es auf der Königsstraße keine Banditen und auf dem Landstreicherpfad keine Wirtshäuser. Ein Esel aus dem Stall des Tempels, seine Herkunft kenntlich an den Verzierungen seines Halfters und einer Marke in einem der langen Ohren, trug das Gepäck des Priesters, zwei ausladende Satteltaschen und ein geschnürtes Bündel.

Die ersten Tage der Reise verliefen angenehm. Das Wetter war mild, und die Gasthäuser entlang der Königsstraße wurden ihrem guten Ruf gerecht. Die Söldnerin trank nur mäßig, spielte nicht, und ihre ruppige Art schreckte mögliche Trinkkumpane und Wegbekanntschaften ab, was dem Priester nur recht war.
Am dritten Tag bogen sie von der Königsstraße auf den Landstreicherpfad nach Norden ab. Sie ließen die Weinhänge und die Apfelbäume, die jetzt in Blüte standen, hinter sich, als der Pfad aufwärts führte und weiter aufwärts, zwischen Kiefern und Tannen und großen, grauen Steinen stetig bergauf. Hier und da kennzeichneten Steinhaufen, von Moos und Flechten bewachsen, den Verlauf des Weges. Gegen Mittag rochen sie Rauch von einer Köhlerkate, und am Abend begegnete ihnen eine alte Frau mit einer Kiepe voller Kiefernzapfen. Sie bildete hastig ein Zeichen mit ihren Fingern und stolperte dann eilig. Das Land nördlich der Königsstraße war oft umkämpft worden und hatte den Ruf, voll von Häretikern und bösen Geistern zu sein.
Sie rasteten in einer Mulde zwischen großen Steinen. Die Söldnerin legte Schlingen für Kaninchen und hatte tatsächlich eins gefangen, als die Sonne untergegangen war.
„Die Frau glaubte, wir seien Sar Varn“, sagte die Söldnerin, während sie an den Knochen des Kaninchens nagte. „Wiedergänger.“
Es war ein sonderbares Gesprächsthema für einen Abend am Lagerfeuer, umlauert von Schatten. Der Priester beobachtete ihre Züge genau, aber sie wirkte nur nachdenklich, nicht mißtrauisch oder furchtsam.
„Wiedergänger…“, sagte er. „Avinis schreibt, die im Volksglauben so genannten ‚Wiedergänger’ seien Seelen, deren Verbrechen so groß sind, daß sie weder zu den Gefilden der Seligen noch zur Unterwelt Zutritt finden. Deswegen sind sie dazu verdammt, auf ewig über die Welt zu wandern und niemals sterben zu können.“
Sie sah ihn an, leicht beunruhigt offenbar von dem Gedanken an Seelen, denen nicht einmal die Unterwelt Zuflucht bot. „Dann hoffe ich nur, daß uns keine begegnen“, sagte sie.

Aber ihr Schlaf war ungestört, und am Abend des folgenden Tags erreichten sie die Paßhöhe. Sie schlugen ihr Lager direkt unterhalb davon auf, wo es nur Steine und dürre Heide gab und die Schlingen, die die Söldnerin legte, leer blieben. Sie aßen Brot und Käse aus ihren mitgebrachten Vorräten und zündeten ein kleines Feuer an, um sich warm zu halten. Von der Paßhöhe aus sah man das Lemyl-Tal dunkel und grün, halb verborgen vom Abendnebel, der aus dem Fluß aufstieg. Die Ruinen am östlichen Ende des Tales waren in der Dunkelheit unsichtbar.
Die ganze Nacht hörten sie den Nordwind über den Paß heulen. Am Morgen war eine dünne Eisschicht auf den Pfützen, und Rauhreif bedeckte die Heide, doch sobald sie den Abstieg ins Lemyl-Tal begonnen hatten, wurde die Luft milder, und bevor die Sonne den Mittag erreicht hatte, war es unangenehm warm und stickig.
Das Lemyl-Tal war ein Urwald, feucht und mild und mückenverseucht, durch den sich der Lemyl grün und träge wand. Sie umgingen einen Altwasserarm, und die Söldnerin schnitt sich einen soliden Stecken, um die Festigkeit des Bodens zu prüfen und den sichersten Weg zu finden. Trotzdem waren sie, als der Abend nahte, verschlammt und durchgeschwitzt und von Mücken zerstochen. Der Esel ließ den Kopf hängen und trottete ihnen stoisch hinterher.
Die untergehende Sonne färbte den Himmel rot, als sie sich durch ein weiteres Dornengestrüpp gekämpft hatten — die Söldnerin hatte ihr Schwert gebraucht, um die zähen Ranken zu zerteilen — und plötzlich auf festem Boden standen. Glatter Stein war zwischen den Gräsern sichtbar, und die baum- und strauchlose Schneise führte geradewegs nach Nordosten, wo ein einzelner Turm, hoch am Hang, die letzten Sonnenstrahlen einfing und unheilverkündend rot leuchtete.
„Den Dreien sei Dank!“ sagte der Priester. „Das ist die alte Straße — sie führt bis zu Hastvans Stelen am oberen Ende des Tals. Sie wird unsere Reise einfacher machen.“
Die Söldnerin stampfte mit dem Fuß auf und nickte zufrieden, als sie das solide ‚Tunk’ von Stein hörte. „Dann laßt uns hier lagern“, sagte sie, „ehe wir die Hand nicht mehr vor Augen sehen können.“

Am nächsten Tag setzten sie ihre Reise auf der Straße fort, und ebenso am darauffolgenden, und an dem danach. Gelegentlich behinderten umgestürzte Bäume ihren Weg, und einmal kamen sie an eine Stelle, wo ein Hochwasser einen Teil der Straße unterspült hatte. Die großen Pflastersteine waren wild durcheinandergefallen, ein paar standen senkrecht wie Zähne, und es erforderte große Anstrengung, den Esel über diese Stelle zu bringen. Das Wetter hielt sich, und der letzte Turm von Car Lemyl kam stetig näher.
Die Nächte brachten Kühle und dichten Nebel, dennoch entzündeten sie kein Feuer mehr: Alles Holz, was es hier gab, war grün oder morsch und halb verfault, und der Söldnerin schien der Gedanke, was sich alles vom Licht eines Feuers angezogen fühlen mochte, nicht angenehmer als dem Priester.
Am dritten Morgen ihrer Reise durch das Tal wollte der Priester gerade seine Decke in der Packtasche verstauen, als die Söldnerin ihm in den Arm fuhr. „Nicht!“
Der Priester sah verwirrt zu, wie sie ihren Stecken nahm und aus sicherer Entfernung die auf dem Boden liegende Packtasche umdrehte. Eine armlange, braune Schlange huschte heraus. Die Söldnerin schlug mit dem Stecken nach ihr und hob sie mit dem Ende auf, als sie sich nicht mehr regte. Der Priester schauderte leicht. Schlangen waren ekelhafte Tiere, Boten des Bösen, Vorzeichen schlechter Nachrichten. Eine Schlange im Lager bedeutete Betrug, Verrat und Tod.
Aber der Söldnerin schien die Deutung der Omen fremd zu sein, als sie die tote Schlange betrachtete. „Ein Jammer, daß wir kein gutes Holz für ein Feuer haben“, sagte sie. „Ich könnte sie sonst braten. Ist nicht schlecht, Schlange.“ Sie zuckte die Schultern und schleuderte das tote Tier in hohem Bogen in die grüne Wildnis.
Sie reisten weiter. Das Land wurde trockener, als sich die Straße aus dem Flußtal hob. Zu ihrer Linken sahen sie auf den hier schnell fließenden Lemyl herab, und bald darauf hörten sie vor sich ein gewaltiges Rauschen und Brausen: die Weißen Fälle des Lemyl, wo der Fluß von den Bergen herunter in das Tal stürzte, dem er seinen Namen gab. Der Himmel hatte sich zugezogen, und die Wolken hingen tief und grau auf den Hängen und ließen die Kämme und Gipfel nicht sehen. Die Straße stieg weiter an, flankiert von drei Paaren von Stelen aus grauem, behauenem Stein. „Hastvans Stelen“, erklärte der Priester. „Hastvan der Gute stellte sie auf, nachdem er das Tal von unheiligen Wesen gesäubert hatte. Die Stelen enthalten die Geschichte seiner Taten und Bannsprüche, damit kein böses Wesen jemals wieder diesen Weg hinunterkommt.“
Die Söldnerin trat an eine der Stelen und fuhr die Schriftzeichen langsam mit den Fingern nach, scheinbar fasziniert von den regelmäßigen Formen. „Könnt Ihr es lesen?“ fragte sie.
Er bestätigte das. „Es ist eine alte Sprache“, fügte er hinzu, „die nur Gelehrte und Priester heute noch lesen können.“
Sie starrte weiterhin die Stele an, ein merkwürdiger Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die Ehrfurcht der Barbaren vor dem geschriebenen Wort war bekannt: Sie hielten es für Zauberei, daß die Weisen der östlichen Länder den Stein sprechen machen konnten, indem sie Kerben hineinschlugen. „Laßt uns weitergehen“, sagte er. „Wir können vor Einbruch der Nacht an unserem Ziel sein.“

Die Straße führte an der Bergflanke entlang. Die Weißen Fälle lagen jetzt unter ihnen, und die Straße war grün und glitschig von dem sprühenden Wasser, ehe sie sich auf ein Plateau öffnete. Die Grundmauern von Häusern und runden Türmen waren hier und da noch zwischen wucherndem Farn und großblättrigen Pflanzen zu erkennen. Am Rand des Plateaus, die Fälle und das Tal überblickend, stand der letzte erhaltene Turm von Car Lemyl. Es begann zu regnen, und die Dämmerung fiel. Der Priester nickte zufrieden.
Runen und Bannkreise schützten die Tür des Turmes. Er spürte die Magie in ihnen wie die Wärme eines Feuers. Selbst die Barbarin schien sie zu spüren, denn sie zeigte nichts von ihrer Neugierde bei den Stelen, sondern hielt sich wie zufällig hinter ihm.
„Es dämmert schon“, sagte sie jetzt. „Wir sollten draußen lagern und diesen … Ort erst betreten, wenn die Sonne wieder am Himmel steht.“
So lange würde er nicht warten. Nicht jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war. „Drinnen wird es trocken sein“, sagte er.
Sie umklammerte ihr Amulett, während sie vergeblich versuchte, mit einer Hand eine Fackel zu entzünden. Er schnippte mit den Fingern, und ein blaßer Ball aus Licht erschien in seiner Hand. „Stört mich nicht, Frau“, sagte er, „ich muß diesen Bannspruch lösen, damit wir hinein können.“
Sie war still: Die offene Zurschaustellung seiner magischen Macht hatte ihr die Sprache verschlagen. Die Runen an der Tür flammten rot auf und erloschen. Das Echo seines Spruches flüsterte ihm zu, daß die Runen mehr als einmal ihren Dienst getan und Wesen der Finsternis den Zugang verwehrt hatten. „Wir können jetzt hindurchgehen“, sagte er und stieß selbstsicher die Tür auf.
Der Raum dahinter war dunkel, trocken und zugig. Er nahm die gesamte Fläche des Turms ein, und das Licht in der Hand des Priesters reichte kaum, um ihn zu erhellen. Entlang der Wand führte eine steinerne Rampe nach oben und nach unten.
Die Söldnerin, die offenbar dem magischen Licht nicht traute, hatte inzwischen doch eine Fackel angesteckt und beäugte den Raum mißtrauisch, ehe sie schnell durch die Tür trat.
Der Priester wählte den Weg nach unten, schicksalsergeben folgte die Söldnerin ihm.
Die Rampe endete an einer eisenbeschlagenen Tür. Der Priester murmelte einen weiteren Spruch, und die Türflügel schwangen auf. Im fahlen Zauberlicht erschien der Raum dahinter sehr groß und halb in Schatten gehüllt. Die Söldnerin zog ihr Schwert, als sie durch die Tür traten. Das Zauberlicht löste sich aus der Hand des Priesters und schwebte zur Decke. Jetzt konnte man sehen, daß der Raum rund war, der Boden mit schwarzen und weißen Fliesen in einem das Auge verwirrenden Muster bedeckt. Einige der Fliesen waren gesprungen. In der Mitte des Raumes stand ein großer Steinblock wie ein unheiliger Altar. In fünf Schritten Abstand um ihn herum verlief ein Bannkreis, aufwendige Symbole von Schutz und Vertreibung des Bösen, die jedes Wesen aus Nacht und Zauberei daran hindern würden, ihn zu überschreiten. Der Raum summte von Macht, alt und wartend.

Der Priester begann, leise zu sprechen, Verse und Formeln, die alt gewesen waren, als Hastvans Zauberer diese Kreise gezogen und den Sarkophag verschlossen hatten. Die Symbole schienen in Bewegung zu geraten, zu flackern, als seien sie von unsteten Flammen erleuchtet. Die Söldnerin rief etwas, ein Stoßgebet vielleicht zu den Geister ihrer Ahnen, oder vielleicht auch nur einen Fluch, und machte einen Satz zurück, der sie fast bis zur Tür trug.
Ehe sie sie erreichte, fielen die Türflügel mit einem satten, dumpfen Geräusch zu. Sie rüttelte daran, vergeblich. Der Priester, vertieft in seine Formeln (die leichte Geste in Richtung der Tür, zwei Finger nur, konnte sie nicht gesehen haben), ignorierte sie, als sie sich hilfesuchend zu ihm umdrehte und seinen Namen rief. Erst als sie ihn an der Schulter packte, um ihn herumzureißen und den Zauber des Steinblocks zu brechen, richtete sich ein Blick auf sie.
Er sprach nur ein Wort, und die Steine selbst schienen zu antworten, und sie fand sich bewegungslos, an den Ort gebannt, wo sie stand, kämpfte gegen den Zauber an, vergeblich.
Der Priester wandte sich ihr zu und lächelte. Es war kein freundliches Lächeln. „Endlich“, sagte er. „Endlich. Das Grab von Izako, dem Dämon, den nicht einmal Hastvans Zauberer vernichten konnten. Statt dessen bannten sie ihn in diesen Steinsarg, kerkerten ihn ein mit den mächtigsten Bannzaubern ihrer Zeit, in der Hoffnung, daß Zukünftige fertigbringen würden, woran sie gescheitert waren: Izako, Hastvans Dämon, für immer aus der Welt zu vertreiben.“
Die Söldnerin versuchte, das nutzlose Schwert in ihrer Hand in eine Abwehrhaltung zu bringen, aber sie konnte sich kaum um eine Fingerbreite bewegen.
„Und sie verschlossen das Wissen um Hastvans Dämon in den tiefsten Archiven der Tempel“, fuhr der Priester fort, „wo nur Bibliothekare und Gelehrte sie finden würden, Leute, die viel zu unbedeutend waren, um mit dem Wissen etwas anfangen zu können. Aber da haben sie sich getäuscht!“ Er lachte. Seine Zuhörerin kämpfte verbissener.
„Wie oft haben sie mir gesagt, ich sei ja nur ein Gelehrter — ohne große magische Kräfte, ohne politischen Einfluß, einer, der sein Leben zwischen staubigen Folianten verbringt und dort beendet. Aber ich habe die Bücher, die sie verachteten, gelesen und ich habe sie verstanden… ich kenne Zauber, um den hellen Tag zur Nacht zu machen und Dämonen über die schreiende Erde reiten zu lassen, ich kann die Schrecken aus den Träumen beschwören und den Unholden und Wiedergängern befehlen, mir zu Diensten zu sein! Und wenn ich erst Hastvans Dämon in meiner Macht habe, wird niemand mich aufhalten können! Die Zauber eines Priesters und das Blut eines Menschen brechen den Bann!“ Er zog einen langen Dolch.
Die Söldnerin hatte ihren fruchtlosen Kampf gegen die magischen Fesseln, die sie hielten, aufgegeben und musterte ihn jetzt aus zusammengekniffenen Augen, das Schwert vergessen in ihrer Hand.
„Was wird Euer Orden dazu sagen?“ fragte sie. In ihrer Stimme war etwas merkwürdig Distanziertes, als sei sie sich nicht ganz im Klaren, was ihr bevorstand.
„Was kümmert mich, was sie sagen! Wenn sie es erfahren, wird es zu spät sein!“
„Und Eure Götter?“
„Genug!“ sagte er, nicht bereit, sich in der Stunde seines Triumphes das sinnlose Flehen seines Opferlamms anzuhören. Er hob seinen Dolch.
Sie stand unbewegt, gefesselt durch seinen Zauber, den sicheren Tod vor Augen, doch ihr Gesichtsausdruck war zuversichtlich. Er bemerkte es nicht.

Als er den Dolch in einer geraden Linie, die auf ihr Herz zielte, nach unten bewegte, warf sie sich mit aller Kraft gegen den Zauber, der sie hielt, und der Dolch verfehlte sein Ziel und traf statt dessen ihre linke Schulter. Blut floß aus dem tiefen Schnitt. Sie schrie etwas, einen Fluch in einer unbekannten heidnischen Sprache. Blut lief an ihrem Arm herunter auf die verblichenen Linien des Schutzkreises. Der Zauberspruch, nur halb gebrochen durch ihre Anstrengung, behinderte sie, machte sie unbeholfen, sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Ihr Schwert landete neben ihr auf dem Boden.
Der Priester lachte triumphierend. „Das Blut eines Sterblichen!“ rief er. „Der Kreis ist gebrochen!“ Gebannt starrte er auf den steinernen Sarkophag, erwartete, daß Hastvans Dämon erwachte, erwartete einen magischen Kampf, erwartete zu gewinnen. Doch die Macht des Bannkreises war ungebrochen, und der Sarkophag schwieg.
Nach einigen langen Herzschlägen sah er ungeduldig sein Opfer an, als wolle er sie für die mindere Qualität ihres Blutes tadeln. Er erwartete nicht, daß sie nach ihrem Schwert greifen würde, aber das tat sie, und sie warf es, ein unmögliches Manöver, aber es flog, drehte sich einmal um seine Achse und durchbrach seinen Zauber, seinen Schutzkreis, der schließlich gegen die körperlosen errichtet war und nicht gegen bloßes Metall, und es bohrte sich, die Spitze voran, in seinen Körper.
Er taumelte, ungläubig, und sank auf die Linien des Bannkreises, und das letzte, was er hörte, als sein Blut sich mit dem ihren auf dem Boden mischte, war das Knirschen von Stein auf Stein, als der Sarkophag sich öffnete.
Die Söldnerin stand auf, wischte ihr Schwert an der Robe des gefallenen Priesters ab und kümmerte sich nicht um das Geräusch. „Ja, genau, du Idiot. Das Blut eines Menschen. Und einen abtrünnigen Priester, um die Bannzauber zu lösen.“ Erst dann drehte sie sich um und sah den Dämon an, der aus seinem Grab auferstanden war. Eine skeletthafte Gestalt in vermoderten Roben von Purpur und Smaragd, die Augen dunkel und tief in den Höhlen. Seine Zähne waren spitz, und an seinen Händen waren lange, scharfe Klauen. „Hallo Izako“, sagte die Söldnerin. „Lange nicht gesehen.“
In den dunklen Augen des Wesens glomm ein Funke auf. „Lange, das kannst du wohl sagen! Was hat dich so lange aufgehalten?“
„Hastvans Hexer verstanden was von Schutzzaubern. Ich mußte erst einen Trottel finden, der mir die Tür aufmachte.“
Der Dämon streckte sich. Knochen knackten, als sich von seinem Rücken lederne Flügel entfalteten. „Das hat hundertfünfzig Jahre gedauert?“
„Hab’ dich nicht so. Ich bin ja hier. Glaubst du, ich lasse dich in einer Steinkiste verrotten?“
Mit den Fingern kämmte sie das Grau aus ihren Haaren und glättete die Linien in ihrem Gesicht. Die Wunde in ihrer Schulter hatte bereits aufgehört zu bluten, und in ihren Augen brannten blaue Flammen. „Schließlich müssen wir Monster zusammenhalten.“

Ingeborg Denner