Des Schneiders Schere, von: Mika Reckinnen

Schnellen Schrittes schritt der Schneider auf mich zu. Keine Ahnung, ob das die Lösung war? Keine Ahnung, ob das die gerechte Strafe war? Warum wütete er jetzt so und warum fuchtelte er mit der Schere herum? Eine Überreaktion?
Er wirkte, als komme er aus einem Klischee-Märchen und möchte jetzt seine sieben auf einen Streich erledigen. Sein Hemd war offen, die Hose zu eng, seine Haare waren kraus und ein Maßband hing an seinen Schultern herunter. Es sah lächerlich aus. Er hielt die Schere wie ein Psycho aus einem Teenyhorrorfilm und die spitze Klinge zeigte auf mich. Sie reflektierte kurz das Licht der Straßenlaterne, dann drehte ich mich wieder und rannte weiter die dunkle Gasse entlang.
Es regnete.
Wie schaffte ich es immer wieder, mich in solche Situationen zu bringen? Er hatte mich ertappt. Okay, die Spuren konnten nicht mehr verwischt werden, die Täter sich nicht mehr rechtzeitig verstecken. Also hieß es, die sieben Sachen packen und laufen. Er hinterher.
Er hatte unten gearbeitet. Wie immer. Bis tief in die Nacht. Er schneiderte aus Leidenschaft. Seine Leidenschaft in anderen Bereichen hatte nachgelassen. Also musste Ersatz her. Während er unten am Schneidern war, half ich aus. Es brachte mir nicht viel, nur etwas Geld und Spaß. Sie schenkte mir Sachen, er nähte unten Gewänder. Er war doof, so eine Frau nicht anzufassen, und sie ließ sich gerne anfassen. Überall! Ihre Brustwarzen wurden schnell hart und ihre weichen Brüste ließen sich gerne von fremden Händen massieren.
Wir hatten uns häufig getroffen. Erst woanders. Zu Beginn in einem Restaurant. Nur was zusammen essen. Dann später in Hotels. In Hotels oder bei mir. Es war okay. Irgendwann sagte sie: „Komm doch mit zu mir.“
Wir wurden leichtsinnig. Dennoch trafen wir uns bei ihr. Regelmäßig! Regelmäßig zwei bis vier Mal die Woche. Sie sagte, sie würde mir die Miete bezahlen, und kam häufig mit Carepaketen. Breakfast, Lunch, alles. Mein Abendbrot hatte ich mir angewöhnt, mit ihr einzunehmen. Bei mir, bei ihr, in einem Café, in einem Hotel. So wie sie es wollte. Ich hatte nicht die Mittel, wählerisch zu sein. Sie zahlte schließlich.
Er schneiderte währenddessen für reiche Männer und Frauen von reichen Männern Gewänder. Bis tief in die Nacht. Er nahm Maß, ließ die Nähmaschine rattern, während ein Stockwerk höher seine Frau mit einem fremden Körper verschmolz. Während er mit Nadeln Stoffe absteckte, wurden die Abgrenzungen seines abgesteckten Territoriums niedergerissen. Von niemand anderem als mir. Dem Sohn seines besten Kunden. Hätte mein Alter mir nicht zur Diplomfeierlichkeit diesen beschissenen Anzug schenken wollen, ich würde jetzt nicht durch diese doofe dunkle Gasse laufen.
Gleich würde eine Mauer kommen und sich diese Gasse als Sackgasse herausstellen. Das wusste ich. Trotzdem rannte ich hinein. Vielleicht wollte ich den Showdown. Vielleicht wollte ich dem Ganzen ein Ende setzen. Oder er mir. Ich mochte seine Ehefrau nicht. Hatte keine Gefühle für sie. Ihr ging es nicht anders. Für sie war es Befriedigung. Reine Befriedigung. Ich spiele damit nicht einmal auf meine lausigen Qualitäten als Liebhaber an. Ihre Befriedigung rührte davon, dass sie es ihrem Ehemann heimzahlte. Nicht offen, nicht direkt! Doch sie genoss jedes Mal den Klang und das Rattern der Nähmaschine, wenn ich auf ihr lag und versuchte, den gleichen Rhythmus hinzubekommen. Peinlich, wenn man es mit Distanz betrachtet.
Der Regen wurde stärker. Der Mond hatte sich schon lange hinter der Wolkendecke versteckt. Das letzte Mal, vor heute, dass ich es mit ihr getan hatte, diesen Typen mit der Schere und den tausend Nadeln betrogen hatte, war, nachdem er mir meinen Anzug Maß angefertigt und ausgeliefert hatte. Er hatte geschellt. Ich hatte ihm die Tür geöffnet. Es war schon dunkel. Der Mond stand groß über der Rasenfläche der kleinen Wohnung im Parterre, welche ich angemietet hatte. Ich zog den Anzug an. Er saß. Der Schneider war vorher dreimal vorbei gekommen. Jedes Mal hätte ich ihm den Anzug abgenommen, doch er fand jedes Mal eine Kleinigkeit, die noch korrigiert gehörte. Mal saß die Hose nicht richtig, dann das Oberteil. Doch an diesem Tag war alles perfekt. Er machte ein paar komische Geräusche, schnalzte mit der Zunge, nahm noch ein allerletztes Mal das Maßband und, voilà, der Anzug saß. Sein Werk war vollbracht. Er fühlte sich wie ein Künstler vor seinem Werk. Wie ein Pianist, der ein klassisches Stück zur Vollendung gebracht hatte. Wie ein Dirigent, der seinen Taktstock geschwungen hatte, bis das Publikum und das Orchester der Ekstase verfallen waren. Er war der Komponist und ich nur die Pfeife, die er mit seinem Anzug ausstattete. Als er die Tür verschloss, zog ich den Anzug wieder aus, ging nackt in den Garten und schlief zwei weitere Male mit seiner Frau. Nur der Mond schaute zu.
Doch eben dieser Mond wollte nicht zugucken, als mein Ende nahte. Wir bogen beide von der dunklen Gasse ab. Beide links, er knapp hinter mir. Plötzlich blieb er stehen und ich ahnte, warum. Es machte keinen Sinn mehr, mich zu jagen. Jetzt hieß es nur noch zuschnappen. Wie ein Tier, welches seine Beute gejagt und erfolgreich in die Enge getrieben hatte. Jetzt machte er sich bereit zum finalen Stoß. Da hatte ich die Sackgasse. Da hatte ich die quer stehende Mauer und da hatte ich den Salat. Der Schneider mit der Schere, dessen schnelle Schritte zu einem Schleichen zusammen geschmolzen waren, stand wenige Meter hinter mir. Sein letztes vollendetes Machwerk stand vor ihm.
Okay, es war ungeschickt, direkt nach der Diplomfeier zu seiner Frau zu fahren. Sie hatte gesagt, sie könne nicht zu der Feierlichkeit kommen, wolle aber unbedingt den neuen Anzug noch einmal an mir sehen. Also war ich gekommen. Um halb zwölf. So spät war ich sonst nie da. Die Nähmaschine ratterte unten im Takt und ich ging direkt auf sie zu. Wir kamen nicht ins Schlafzimmer, wir schafften es gerade noch die Treppen hoch zum oberen Flur. Die Tür war kaum verschlossen, da war ich schon wieder in meinem alten Rollenspiel. Der Eroberer, der Liebhaber, der Mann, der sich nicht die ganze Nacht mit seinen Stoffen beschäftigte. Ich war das Gegenteil. Stoffe machten mich nicht an. Ich wollte immer sofort an die versteckten Schätze unter den Stoffen. Sex war nicht das höchste der Gefühle, aber Nacktheit bedeutete Freiheit, Kleidung war Zwang. Anzüge hatte ich immer gehasst, Krawatten auch. Der Schneider hatte eine große Sammlung davon. Ich hatte mich mal drin verfangen, als ich mich eine halbe Nacht in seinem Kleiderschrank verstecken musste. Doch diesmal hatte es kein Versteck mehr gegeben. Der Schneider stand vor uns, zwei Nadeln im Mund, die Schere in der Hand. Was denn das für ein Lärm sei, hatte er gemurmelt. Dann waren ihm die Nadeln aus dem Mund gefallen. Ich sprang halbwegs routiniert, halbwegs elegant in meine Kleidung und hörte nur noch den dumpfen Klang, als die Schere in ihren Körper sauste, wie ihr Aufschrei erstickte, als hätte er ihr die Kehle durchstoßen.
Hier ging es um Leben und Tod, hatte ich mir gedacht. Also los, nimm die Beine in die Hand. Ihr Schicksal war mir egal, wie ihr andersherum wohl auch meine Zukunft egal gewesen wäre. Also rannte ich die Treppe herunter, aus dem Haus. Ich hatte zuviel getrunken, zuviel gefeiert, das merkte ich jetzt. Es war eine Diplomfeier gewesen. Kein Wettbewerb, wer am längsten mit der Nähmaschine rattern konnte. Also lief ich nicht sonderlich koordiniert. Meine Geliebte, nicht die Frau, die ich liebte, war wahrscheinlich schon tot. Jetzt wollte der Schneider, der es wohl nicht mehr auf sieben auf einen Streich bringen würde, wenigstens seinen zweiten Streich vollenden. Danach vielleicht noch Selbstmord, das wären dann drei. Könnte er noch vier andere vorher umbringen, die Zeitungen hätten ihren Aufmacher für die nächsten Wochen. „Liebeskranker Schneider ersticht sieben auf einen Streich, darunter sich selber!“ Oder so ähnlich.
Er kam langsam auf mich zu. Er sagte etwas wie „Jetzt ist es aus“, und es klang, als hätte er immer noch Nadeln im Mund. Wiederum blitzte die Schere im Dunkeln der Nacht. „Ich habe sie nicht geliebt“, hätte ich vielleicht sagen sollen. Oder genau das Gegenteil. Wer wusste schon, was in solchen Situationen half. Niemand! Solche Situationen überlebte man meistens nicht, um danach anderen Leuten von seinen Erfahrungen zu berichten.
Er ging einen weiteren Schritt nach vorne. Es waren vielleicht noch fünf Meter. Ich spürte, wie die nasse Wand hinter mir mein Hemd durchfeuchtete. Sie malte mir mit Feuchtigkeit das Wort Sackgasse auf das weiße Hemd. Sein maßgeschneidertes Hemd und die bequeme Hose hatte ich an. Das musste man ihm lassen, den Preis für die Hose und das Hemd, den waren sie wert. Über das Jackett hätte man streiten können, aber das war nicht der richtige Moment dafür. Er war eh schon wütend genug und wer gibt seinen Mörder schon mehr als einen Grund, einen selbst umzubringen? Ich jedenfalls nicht. Also verschwieg ich den Fakt. Dafür spürte ich die Nässe durch das Hemd. Es sog sie nahezu auf. Mein Schweiß war längst verflogen. Mir war kalt.
„Warum?“ fragte er in die Nacht und ich fühlte mich nicht angesprochen. Warum sollte ich ihm antworten? Er war doch Schuld. Trotzdem, auch das konnte ich schlecht sagen. Auch nicht, dass ich in diese Situation nur hereingerutscht sei. Ausreden hatte ich keine parat, wollte auch nicht ihr die Schuld geben. Wenn sie noch leben würde, wäre es ihr gegenüber nicht fair. Und es wäre nicht die Wahrheit, denn ich hatte mich mindestens genauso wie sie treiben lassen.
Vier Meter! Vier Meter sind nicht viel. Kommt zwar immer auf den Betrachtungswinkel an und in welchem Kontext vier Meter nicht viel sein sollen, wenn aber ein psychisch arg grenzdebiler Schneider mit einer spitzen Schere, die er dolchartig schwingt, vor einem steht, dann sind vier Meter wahrlich nicht viel. Ich hatte die ganze Zeit noch nichts gesagt. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? „Sorry, dass ich deine Alte gebumst habe?“ Hm, Bumsen ist in diesem Zusammenhang eh nicht so das Wort, das man verwenden sollte. Auch ficken oder liebgehabt kommen in solchen Moment nicht sehr fein herüber. Und einen Satz mit außerehelichem Beischlaf konnte ich in dieser Situation nicht bilden.
Drei Meter, vielleicht drei Meter zwanzig. „Ach, was soll’s“, denke ich bei mir. Ich habe mein Diplom in der Tasche, das Studium ist zu Ende, meine Versorgerin wohl schon tot. Warum sollte ich nicht einen neuen Lebensabschnitt beginnen? Vielleicht sollte ich auch mit dem Schneider über einen Lehrvertrag sprechen. Warum nicht Schneider werden?
Zwei Meter! So, jetzt wird es kritisch. Die Gedanken konzentrieren. Bilde einen schlauen Satz, mein Junge! Jetzt wäre die Gelegenheit. Ich sehe, wie er das erste Mal aus der sicheren Entfernung versucht, mich zu stechen. Meinen Bauch muss ich einziehen. Das Hemd wird aufgeschlitzt. Seine Ware. Der Künstler zerstört sein Werk. Dabei war es maßgeschneidert. Egal, wenn er so weitermacht, werde ich es nicht mehr brauchen. Ein weiterer Schnitt, diesmal tiefer. So tief, als hätte er es auf meine Eier abgesehen. Nachvollziehbar, schließlich waren sie es ja auch, die fremde Samenflüssigkeit in seine Frau gepumpt haben.
Reflexartig springe ich hoch, er zerschneidet nur seine Hose. Sein zweites Werk. Wie ein Künstler, der seine Skulpturen umwirft. Vielleicht eine Art künstlerischer Akt? Das letzte Aufbäumen. Ich sage „Hey!“, meine aber „Hör auf!“ Dann trete ich. Ich trete mit meinen neuen Schuhen in seine Schere. Er kann sie nicht mehr halten, sie steckt in meinem Fuß. Schmerzen! Richtige Schmerzen! Die Seitenstiche von vorhin waren ein Dreck dagegen. Der Feind ist entwaffnet. Er stürmt dennoch auf mich zu. Er will mich prügeln, ich weiche aus, ducke mich unter seinen Schlägen. Er malträtiert die Wand, dreht sich, wirbelt herum, versucht mich zu treffen, schlägt die Luft. Seine Luftschlösser brechen zusammen, die meinigen werden niedergetrampelt. Alles nur noch Luftruinen! Ich bekomme einen Tritt ab. Trete zurück. Leider mit dem Bein, in dem die Schere steckt. Es durchzieht meinen Fuß, die Schere rutscht noch einmal tiefer in ihn hinein.
Ich weiß nicht, ob ich schreie. Ich weiß nicht, wie und wo ich ihn treffe. Ich ramponiere seine Visage, dann seine Hände. Ein Komponist ohne Hände, ein Komponist mit zerbrochenem Herzen, ein Komponist, der gleich seine eigene verfickte Schere in seinem Körper spüren wird. Ich stoße ihn zu Boden, springe auf seine rechte Hand.
Der Regen hat aufgehört. Die Wolken waren weiter gezogen. Der Wind hatte gepustet, meine Haare waren zerzaust. Der Mond stand hoch, die Nähmaschine ratterte diese Nacht nicht. Vorwurfsvoll sah er zu mir herauf, die Augen weiß und leuchtend. Wo war das tacktacktack, schien er wissen zu wollen. Und mir ging es ähnlich. Hätte ich doch nie, aber ich hatte. Wäre ich doch nie, doch ich war. Sein Blick schien ähnliches zu sagen, als er mich vor mir liegend anstarrte.
„Ja, ja, so ist das“, sagte ich, doch er riss nur die Schere aus meinem Fuß und versuchte, mein Knie zu treffen. Gedanklich waren wir uns nie so nah und doch so fern gewesen. Als die Schere in der Fuge zwischen asphaltierten und nicht mehr asphaltierten Boden einen Moment festsaß, entschied ich mich dafür, dieser dunklen Sackgasse den Rücken zuzudrehen. Ich würde kein Schneider werden wollen, ich würde ab morgen auch kein Student mehr sein. Die Firma meines Vaters wartete auf mich und meine einzige Zeugin über mein unseriöses Leben war tot. Sollte der Schneider ruhig weiterhin Klamotten machen, dachte ich, doch dann steckte das Messer tief in meiner Brust und ich wusste, man sollte sich nie zu viel für die Zukunft vornehmen.

Mika Reckinnen