Winterkinder, von: Melanie Kalb

Ich war traumtanzend, und wir trafen uns: Theaterboden! Oliver Twist!
Im Zwist der Straßenkinder – Nebenschauplätze… Breite Gassen und haltlose Sätze, an denen wir taumeln. Und dann: Näher. Wir waren zusammen Steine schmeißen über den gefrorenen See im Winter, kein Schnee dahinter, weil der Sound so hochgepitcht wurde. Eishaut, die sich seicht behäbig hebt und senkt, unsere Bewegung lenkt, als atmeten wir mit kleinen Eiswolken die Zeit. Säumen mit unseren Füßen randbreit das Ufer. Wir waren organisch, Symbiose, schufen Welten und zählten Wasser, Haut und Eis. Wir atmeten gegen Gefühlskälte, trotzten Augenblicken die Wimpern ab, bliesen auf hohlen Händen Wünsche in die Luft. Im Morgenduft des Tages verschenken wir Zeit mit bloßen Händen und an beiden Enden malen wir schattig fingerwärts seltene Nachtgestalten.

Wir drehten an den Sekunden, als ob es Momente später schon vorbei wäre – vorbei mit allem.
Vorbei mit Schnee, vorbei mit Winter;
Wir prägten unser Siegel in die Welt. Winterkinder, die wir waren und uns einbuddelten in Mengen von warmen Schals und Mützen, die unsere Ohren beschützten, vor Worten, die wir nicht hören wollten, deren Werte unverfroren als Zwischentöne in Moll erklangen, befangen in diffuser Stimmung.

Wir bauten unsere Wünsche in eine Schneeskulptur. Gefestigte Fingergriffe, hochgesteckte Haare als Frisur, schufen wir Hauptargumente, die das Gerüst tragen. Wir sagen Hauptsache groß. Während der Wind pfiff, hörten wir Musik über Ohrstecker, jeder einen, an den Leinen dazwischen baumelte das Wir, klingend zusammen Puls an Puls an Puls…
Davidoff-Zigaretten und kleine Joints, die nach unseren Lippen schmecken, beim Anlecken, wenn dein Speichel meine Zunge berührt und ich leicht gegen den Filter tippe.
Der erste Geruch, wenn Asphalt durch Regen abgekühlt wird, die Wege leichter werden und unsere Träume sich vermischen, wenn du neben mir einschläfst und ich deine Gedanken höre, Chöre voller Lautgestalten, die meine Fragen falten, als wären es Papierfetzen ohne Sätze.
Deine Finger, die sehr alt und zerbrechlich wirken, nicht jung und stark. Du hältst die Bettdecke vor deine Lippen, als würdest du schweigen wollen und nicht weiterstricken an Gedankenwolken, die sich entladen könnten und Worte zum fließen bringen, deren Staudämme wir bauten.
Es taut.

Wir stehen in Wiese, treten schuhförmige Muster in den Klee und die Blumen ergeben sich. Neigen ihre Köpfe zu Boden, als hätten sie verstanden. Schuhe ausziehend zupfen wir mit nackten Zehen die Kleeköpfe ab, während wir über ein Morgen reden. Unsere erschaffenen Strukturgespenster entziehen der Nacht die Dunkelheit. Meilenweit kein Tongeräusch, das unsere Lieder in die Gesänge der Vögel mischt. Finger suchen Griff und finden Halt in unseren BHs, leckend über geschlossene Lippen. Dann die Linien entlang. Unsere Zungen tippen Buchstaben aneinander, ohne Worte zu bilden. Handgreiflich werden die Dinge entsorgt, die Haut voneinander trennen, wo keine Trennung sein sollte.

Die Kulisse wird orange – dann beige, dann lila. Es trommelt von weit her und direkt Brust an Brust. Ein Rhythmus, ein Atmen. Die Watte bricht auf und es fallen perlengroße Regenbogentropfen auf warme Haut und sammeln sich im Bauchnabel.
Stehend haltend, die Hände zu Schüsseln geformt, als Perlensammler, als könnten wir damit Schätze vom Augenblick wegtragen, mitnehmen und in Gläsern sammeln.

Wir treiben die Stöcke an, die flusswärts laufen und getragen vom Wasser an der Oberfläche schwimmen. Unter der Oberfläche ist es schwarz, braun, aufgewühlt – denn wir werfen die Steine ins Wasser.
Optimistisch.
Die Sonne brach noch nicht den Tag.

Dann ziehen wir in diesem Herbst den Schnee durch die Nase, in der Hoffnung auf den Winter, in der Hoffnung auf den Anfang, auf Theaterboden. Tanzend durch Nebelnächte, die sich laufend am Glas emporziehen und die Schritte eindämpfen, als gäbe es kein Morgen; sumpfend, Schritt für Schritt auf dem Boden, der jeden Hall verschluckt und keine Worte mehr zulässt. Der Buchstaben auseinanderreißt und sie neu verformt, so dass mutierte Sätze ohrwärts dringen.
Wir halten uns an losen Sätzen fest, die so geformt sind, als würde es drauf ankommen.
Wenn ich sie greifen könnte, würde ich mehr als nur lautmalen.

Blicke performen auf der Bühne der Habseligkeiten und sprechen Texte mit Unterton;
ich unterstreiche das Gemalte und füge Gestik hinzu.
Wie eine Vase sitzt du mir gegenüber und möchtest geschmückt werden.
Ich nahm dich nicht ernst und du mich beim Wort.
Ich bediene dein Klischee. Reiche dir ein Glas Wasser. Du starrst es an und deine Finger pressen sich gegen Glaswände und es platzt, reißt deine Handflächen auf, die schon längst rissig sind.
In der Geräuschkulisse hört es sich wie ein irrwitziger Beat an – du zuckst nicht einmal, sondern kleine Linien finden den Weg die Wange herunter, tropfen auf den Spiegel. Dein Make-up schreibt schwarz auf Haut, was unter ihr inmitten der Brusthöhe stand.

Ich gehe.
Nehme die Plattformen und Ebenen mit, auf denen wir verweilen wollten.
Du nimmst ein Stück von mir und legst es auf Eis.
Vielleicht brauchen wir es mal – im Winter.

Melanie Kalb