Wand, von: Marcus Märtens

Hab mal wieder den Tag über gebuckelt und gemacht. Arbeit ist halt das halbe Leben, und die andere Hälfte verbringe ich in meinen Zimmer. Mein kleines 24m²-Appartment am Stadtrand, meine Zuflucht, mein Zuhause. Hier sitze ich oft nach der Arbeit rum und starre die Wand an – denn wo sollte ich auch hingehen?

Freunde? Keine Spur – und selbst das, was dieser Sache am nächsten kommt, ist zu beschäftigt. Mich besucht hier keiner. Zudem bin ich nicht so der Typ, der unter Menschen geht. Bin lieber allein und starre die Wand an. Könnte ja auch erstarrt in den Fernseher starren – oder in meinen PC-Monitor starren. Aber das ist auch langweilig – da starre ich lieber die Wand an und starre und starre und Tag um Tag ist es dieselbe Monotonie. Ich starre also die Wand an, die Wand, von der ich dachte, dass ich sie so gut kenne – die ich schon im Schlaf vor meinen Augen sehe – und starre und denke und wundere mich. Denn irgendetwas ist mit der Wand anders als zuvor. Ich frage mich, ob diese Wand zurückstarrt. Aber ja – sie scheint wirklich zurückzustarren. Warum ist mir das noch nie aufgefallen? Vermutlich, weil meine Wand keine Augen hat. Hätte meine Wand Augen, wäre das viel offensichtlicher.

Und während ich da so auf die Wand starre und die Wand auf mich starrt, denke ich mir: grandiose Idee! Und schon am nächsten Tag habe ich mir Wandfarbe vom Praktiker besorgt und meiner Wand ein paar Augen gemalt.

Jetzt würde niemand mehr abstreiten, dass diese Wand zurückstarrt. Aber es ist nicht dieses Starren eines Raubvogels, der auf seine Beute wartet – es ist ein freundlicher, einladender Blick. Ich fühle mich nicht mehr so alleine, jetzt, da die Wand da ist. Sie hat ja die ganzen Sachen mitbekommen und steckt mehr oder weniger in derselben misslichen Lage. Ist wie gefesselt an diese Wohnung. Das verbindet uns irgendwie und ich fange an, meiner Wand von meinen Sorgen zu erzählen.

Endlich jemand, der mal zuhört, der nicht wegläuft oder den Kopf schüttelt. Meiner Wand kann ich mein Herz ausschütten, sie bleibt stark und steht zu mir. Sie ist die feste Schulter, an die ich mich lehnen kann. Auf meine Wand ist Verlass und ich lerne sie auch immer besser kennen. Sie ist etwas rau (was an der Raufasertapete liegen könnte) und ziemlich hart, aber ich bin mir sicher, auch sie hat einen weichen Kern – so wie ich – und das fasziniert mich so an ihr.

Und schon stelle ich fest, dass ich mich in meine Wand verliebt habe. Musste auch auf Arbeit immer an sie denken. Ich weiß, es gibt viele Wände – aber diese Wand ist meine Wand.

Hab meinen Mut zusammengenommen und ihr zum Valentinstag einen Strauß Rosen mitgebracht. Ihr glaubt nicht, was sie für große Augen gemacht hat. Wir verbrachten den Abend gemeinsam – Candlelightdinner – ich saß meiner Wand gegenüber – der Kerzenschein warf romantisches Licht auf ihr Raufasergesicht und da wusste ich, dass sie auch so für mich empfand, und ich küsste sie und fühlte ihre körnige Struktur an meiner Zunge. Machte mich irgendwie heiß. Ich hab ja schon zuvor an ihr gelehnt geschlafen – meinen Kopf in ihren Schoß – aber jetzt wollte ich doch mehr. Wir waren zwar gerade erst offiziell ein Paar, aber wozu warten?

Sie war leider ziemlich trocken, aber mit ein wenig Gleitgel konnte das Problem gelöst werden. Wir trieben es ziemlich hart und laut. Nach dieser Sache dachte ich: was für eine versaute Wand. Hat wirklich so einiges mit sich machen lassen, aber am Ende konnten wir uns noch immer in die Augen sehen.

Ach, mein Mäuerchen, mein kleiner Zuckerwall…

Das lief eine Zeit lang gut. Sicher – so eine Wand als Partnerin ist nicht sehr flexibel. Man kann mal nicht eben mit ihr irgendwo hingehen – aber bin ja auch nicht so der Typ, der unter Menschen geht. Bin lieber allein mit meiner Wand, so dass wir uns verliebt in die Augen starren können. Irgendwann kam ich aber mit ihrer Art nicht mehr so klar und meine schlimmste Befürchtung sollte sich bewahrheiten. Sie hatte einen anderen. Und dafür gab es nur eine Person: meinen Nachbarn – dieser Bastard!

Musste herausfinden, ob da was dran war. Bin rüber zu ihm, und hab ihn angeschrieen: „Lassen Sie Ihre schmierigen Pfoten von meiner Wand!“ – Tat ganz unschuldig, die Sau – aber ich hab doch genau gesehen, wer sich da mit Schwammtechniken kreativ zeigen wollte!

Fragte mich völlig naiv, welche Wand ich meinen würde. Aha, also hat meine Wand auch noch geschwiegen – der Kerl wusste nicht mal, dass sie schon vergeben war! Ich hatte ein ernstes Wort mit meiner Wand zu reden, aber zunächst machte ich dem Scheißkerl klar, dass er sich eine andere Wand suchen solle und diese mir gehöre. Der tat noch immer ganz unschuldig und ermahnte mich im Gegenzug, ich solle nachts nicht immer so einen Krach machen. Wie dreist! Ich schnappte nach Luft und knallte ihm seine Tür vor die Nase. Das ging ja wohl zu weit, aber erst mal war ein ernstes 4-Augen-Gespräch zwischen meiner Wand und mir fällig.
Hab ihr schließlich verziehen. Bin bei Beziehungen immer etwas nachgiebig. Es ging danach auch wieder Bergauf mit uns – eine Weile. Bis ich es eines Tages höre. Pock, Pock, Pock… und wieder Pock, Pock, Pock – während sie mir in die Augen sieht! Pock, Pock, Pock – das ist er wieder, dieser Schweinekerl nagelt meine Wand! Von hinten! Wutentbrannt stürme ich los, klingele Sturm, stürme in die Wohnung meines Nachbarn und schreie: „Hören Sie auf, meine Wand zu nageln!“ und schlag ihm ins Gesicht. Dann trifft mich etwas und alles wird schwarz.

Wache im Krankhaus wieder auf. Schädelfraktur. Habe zu affektiert gehandelt – hätte ich etwas mehr nachgedacht, hätte ich niemals einen Mann geschlagen, der gerade einen Hammer in der Hand hält. Als ich wieder nach Hause komme, wartet da meine Wand auf mich – und starrt mich an – so als sei nichts geschehen. Diese Wand…

Ich versuche noch einmal mit ihr zu reden, aber mit einer Wand zu reden ist wie mit einer Wand zu reden. Und klar, sie muss ja hier wieder die Harte rauskehren. Hat sich keinen cm von ihren Standpunkt bewegt. Ich sehe ein, dass es so nicht weitergehen kann, und will sie rauswerfen. Aber das klappt nicht – ich bin nicht stark genug und sie ist verdammt noch mal Teil meiner Wohnung. Es wäre auch nicht mehr dasselbe ohne diese Wand. Diese Wand hat mich ruiniert, mein ganzes Leben. Soll sie doch in der verdammten Wohnung bleiben. Ich packe meine Sachen, organisiere mir eine neue Bleibe und ziehe aus. Als ich mich von ihr verabschieden möchte, starrt sie mich nur an. Ich starre zurück. Und so trennen wir uns wortlos.

Nach einer kurzen Affäre mit meiner neuen Wohnzimmertür erkannte ich dann, dass es doch langsam Zeit wurde, wieder mehr unter Menschen zu gehen.

Marcus Märtens