’77 – ’92, von: Ingeborg Denner

Diese Straße ist sehr grade, sie geht von West nach Ost, sie ist neu, mit glattem, schwarzem Asphalt. Sie fängt den Wind, und die Kinder, die in den neuen Häusern an dieser neuen Straße wohnen, fangen ihn auch, wenn sie Rollschuh laufen, fangen ihn in ihren Jacken, von West nach Ost laufen sie, schneller und schneller und mühelos vor dem Wind, ehe sie über die schlammigen, noch ungepflasterten Gartenwege in die neuen Häuser gehen, um zu Abend zu essen und sich dann von den Fenstern ihrer Zimmer aus, die noch keine Vorhänge haben, Zeichen zu geben, geheime Zeichen, die die ganze Straße sieht, mit Taschentüchern und Taschenlampen: Morgen treffen wir uns wieder!
Die Zeit vergeht. Gartenwege und Gartenzäune wachsen in und um Gärten, dann Gras, dann Blumen, dann Bäume. Die Kinder spielen Hinkekästchen auf der Straße oder Federball. Eins der Mädchen spielt jetzt Volleyball im Verein und zeigt den anderen, wie es geht. Der Ball springt hoch auf dem glatten Asphalt. Im Sommer werfen sie mit Wasserbomben, werden naß und lachen und malen Muster mit dem Wasser, das zum Rinnstein läuft. Wenn ein Auto kommt, schreien sie alle „Auto!“ und spritzen in alle Richtungen davon.
Die Sonne sinkt rot im Westen am Ende der Straße. Die Bäume haben die Höhe der Fenster erreicht, deren bunte Vorhänge jetzt Poster von Pferden, Motorrädern oder Rockstars verstecken. Die Mädchen sitzen auf dem Zaun, schauen nach Westen, sie sprechen von Träumen und von Zukunft, von Orten, wo man hingehen möchte, weit von hier. Die Jungen stehen in der Garage um ein Mofa herum, mit fachmännischen Gesichtern, Bier aus Vaters Keller in der Hand.
Es sind jetzt mehr Autos auf der Straße, zwei oder drei vor jedem Haus, viele Golfs und Fiestas und eine rebellische Ente. Die Kinder lassen Motoren und Autoradios laut laufen, stolz, sie kommen spät heim. Eine empörte Mutter schimpft mit ihrer Tochter. Autotüren knallen. Der Motor heult auf. Dumpfe Schläge aus dem Radio. Mütter führen Hunde spazieren. Väter pflastern die Gartenwege neu. Die Bäume, schnellwachsende Fichten, müssen bald geschlagen werden, sie überragen die Dachfirste, nehmen das Licht, sind eine Gefahr für Häuser und Autos, wenn die Herbststürme kommen.
Die kleinen, schnellen Autos sind wieder fort. Audis und BMWs sind zurückgeblieben. Zwei Männer von der Stadt sind gekommen und haben Schilder an den Enden der Straße aufgestellt: Spielstraße! Schrittgeschwindigkeit! Achten Sie auf die Kinder! Die Kinder, wenn sie sich in fremden Städten treffen, nicken sich kurz zu, wie flüchtige Bekannte. Der Westwind treibt die welken Blätter einer einzelnen alten Eiche über den ausgeblichenen Asphalt.

Ingeborg Denner