Liebes Tagebuch!
Ich habe dich bis zum heutigen Tage noch nie benutzt. Hatte nie die Zeit dazu. Das wird sich jetzt ändern. Ich habe jetzt nämlich jede Menge Zeit, aber dafür passiert auch nichts mehr, das wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Tja, so ist das Leben!
Jetzt wirst du mit dummer und belangloser Kacke eines Frustrierten zugetextet, wie in einer Talkshow. Aber tröste dich, du bist nicht das erste Buch, das aufgrund seiner Nichtigkeit und Idiotie niemals hätte geschrieben werden dürfen. „Die heilende Kraft der Steine“, „Urin – Ein ganz besonderer Saft“ und dann noch Adolfs detaillierte Anleitung zum Hirnsuizid – wie heißt sie noch gleich? – ach ja: „Mein Krampf“. Die Liste bereits verfasster und gedruckter Scheiße ist lang, liebes Tagebuch.
Was? Du bist enttäuscht? Hast geglaubt, du seiest zu etwas Höherem berufen? Tja, das ging den Seiten von Dieter Bohlens Büchern genau so. Sie träumten auch einst davon, dass auf ihnen Worte gedruckt würden, die die Welt verändern sollten, und statt dessen schildern sie nun detailliert den Penisbruch eines alternden, selbstverliebten Kaugummipopproduzenten. Dumm gelaufen! Glaub mir, im Gegensatz dazu hast du’s noch gut getroffen!
Zu was Höherem berufen sein und die Welt aus den Angeln heben… Ja, ja, das kenn ich auch noch. Hab ich auch mal von mir gedacht, und was ist jetzt?
Die Jugend, also die Phase, in der man die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben scheint, ist längst vorbei, und die damals unerschütterliche Selbstüberzeugung hat ihren schlimmsten Feind kennen gelernt. Die Realität.
Was ist von den damaligen Visionen übrig geblieben? Ich wollte mal den Kapitalismus abschaffen, und heute sortiere ich statt dessen die Regale bei LIDL ein. Ich wollte sogar mal in die Politik gehen… Mittlerweile kostet es mich schon enorme Überwindung, überhaupt wählen zu gehen, nur um dann das Kreuz an die Stelle zu setzen, die das geringere Übel bedeutet… Obwohl – ich erwische mich immer häufiger dabei, dass ich sie einfach alle wähle. Denn die geben sich alle soviel Mühe – die haben es sich einfach verdient! Siehst du, liebes Tagebuch, von manchen Illusionen muss man sich halt trennen.
Ich wollte mal alle Sprachen dieser Welt sprechen. Bis zu ’nem ganz gewissen Grad gelingt mir das auch, wenn ich genug Alkohol trinke, allerdings spreche ich sie dann alle gleichzeitig, und niemand versteht ein Wort. Ja, ja, du musst wissen, das Leben ist ernüchternd und nüchtern nur schwer zu ertragen.
Ich habe meinem Chef gesagt, dass er, anstatt mich zu beschäftigen, auch einfach einen Schimpansen dressieren kann. Er hat mich lange angeschaut und dann gesagt: „Nein, Herr Heuser, die sind doch viel zu teuer.“ Soweit ist es also schon gekommen. Evolutionäre Überlegenheit hin oder her, der Affe ist mehr wert als ich. Darwin hatte Recht mit seiner Theorie, aber er hat anscheinend die Reihenfolge durcheinander gebracht. Der Affe stammt vom Menschen ab – ER ist die Weiterentwicklung.
Ich habe daraufhin gekündigt und mir meinen Sold in Wodka auszahlen lassen, damit ich wenigstens weiter fleißig Babylonisch lernen kann.
Um nicht zu verblöden, hab ich versucht, einen neuen Job zu finden, aber das ist gar nicht so einfach. Selbst als Toilettenputzer, zu Neudeutsch „Großgebäudereinigungsfachkraft mit Schwerpunkt Sanitärhygiene“, braucht man mittlerweile das Abitur, und darüber hinaus ist das Arbeitsumfeld total beschissen. Der Ausweg aus der Misere, so sagt zumindest die Agentur für Arbeitslosigkeitsverwaltung, sei: Fortbildung. Eine entsprechende Praktikumstelle findet man auch schneller als ’nen Job – ist ja klar, die zahlen ja auch nix. Aber in den sauren Apfel muss man wohl beißen, denke ich.
Das Bewerbungsgespräch verläuft dann allerdings wie folgt:
Ja juten Tach, Herr Heuser, setzen Se sisch. Ihre Unterlagen sind soweit vollständisch… Watt Se bei uns lernen können, haben Se ja schon im Internet jelesen, ne?!
Ähm, nein, das war nicht ganz ersichtlich…
Wie jetzt? Dann holn Se dat nach, aber züjisch!
Können Sie mir nicht einfach sagen, was man hier so alles lernt? Ich meine, ich sitze ja nun mal gerade hier.
Na, hörn Se ma! Erstens is Computerversiertheit das A und O in unserer heutijen Zeit, zweitens warten da draußen noch tausend andere und drittens wird Beratung bei uns sowieso janz klein jeschrieben.
Ich verstehe…
Jut. Dat Se für dat Praktikum Workshops absolvieren müssen, die dreihundert Euro kosten, wissen Se hoffentlisch?
Ähm, nur dass ich Sie richtig verstehe: Ich soll dreihundert Euro dafür zahlen, dass ich ein halbes Jahr früh aufstehe und für Sie arbeite? Wissen Sie was? Sie sollten mal ’nen bisschen weniger kiffen!
Jetzt werden Se ma nischt pampisch, junger Mann. Se kommen zu uns, nisch wir zu Ihnen, ja?! Nehmen Se die Stelle an, ja oder nein?
Ja natürlich! Mit dem größten Vergnügen! Und wissen Sie was, stecken Sie mir doch einfach noch ’nen Besen in den Arsch, dann kann ich beim Rausgehen noch die Treppe fegen, und Sie können die Putzfrau entlassen!
Ich werde gebeten, den Raum zu verlassen. „DER NÄCHSTE BITTE!“
Die Schlange der Bewerber ist endlos lang, und auch wenn ich ein klein wenig stolz auf meinen Auftritt bin, reift in mir die Erkenntnis: Irgendeiner von denen da wird es machen.
Weißt du, liebes Tagebuch, das Problem sind nicht die unverschämten und dreisten Versuche der Arbeitswelt, uns für blöd zu verkaufen, sondern es sind die Ängste der Menschen, die sie dazu zwingen, darauf auch noch einzugehen. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich bin jetzt arbeitslos, deshalb hab ich die Zeit, dich vollzukritzeln. Ja, ja, das Leben ist ernüchternd und nüchtern nur schwer zu ertragen. Wenn du mich suchst, ich bin in der Kneipe um die Ecke. Prost!
Marian Heuser