Sterne, von: Ingeborg Denner

Von der Richtung aus, an der ‚Osten’ stand, floß das erste Morgenlicht über die Silhouette der Stadt. Die Musik klang aus, und das Licht ging an. Die Besucher des Planetariums standen aus ihren Sitzen auf, einige suchten nach Halt, als sei ihnen schwindelig, andere massierten sich mit leisem Ächzen den steif gewordenen Nacken.
Ich streckte mich und erwiderte das Lächeln des Vorführers – der kannte mich, ich war hier Stammgast. Seit dem letzten Winter. Seit Nikki.
Nicht, daß ich mit Nikki ständig ins Planetarium gegangen wäre. Mit Nikki konnte man nicht einmal in den Tiergarten gehen, außer es regnete, und niemand war da, um zu hören, wie er alles, was auf den Tafeln an den Käfigen geschrieben stand, durch den Kakao zog, mit einer Ernsthaftigkeit und einem Eifer, die einem Galilei angestanden hätten, wären seine Ideen nicht völlig absurd gewesen.
Einmal strich er am Käfig des Raben mit einem Edding das Wort ‚Rabe’ durch und schrieb ‚Kark’ hin.
„Was soll das?“ fragte ich, mehr erschöpft als entsetzt.
„Sie sagt, sie heißt Kark. Nicht ‚Rabe’.“
Ich starrte den Raben an. „Kark“, sagte der Rabe.
„Na, siehst du“, sagte Nikki.

Er liebte populärwissenschaftliche Zeitungen und machte sich zu Beginn eines jeden Monats daran, Gegendarstellungen zu schreiben, die er nie abschickte. Menschen stammen von Flughörnchen ab. Dinosaurier leben im Inneren der Erde, von wo aus ihre Knochen, begraben, an die Außenseite wandern, um von staunenden Menschen gefunden zu werden. Sterne sind Türen, jeder einzelne von ihnen, in eine hellere Welt. Es gibt auch dunklere Welten und Türen dazu, aber die sieht man am Himmel nicht – „und sei froh darüber“, sagte Nikki, „denn du würdest sie nicht kennenlernen wollen.“
Er war eine Katastrophe, zumindest sagten das meine Freundinnen (meine Eltern waren weniger zurückhaltend in ihrer Wortwahl), aber er war nicht langweilig, und das hob ihn von den meisten meiner Bekannten ab.

Aber ins Planetarium waren wir nur einmal gegangen. „Ich muß etwas nachsehen“, hatte Nikki gesagt, und anstatt den Vortrag ‚Der Nördliche Sternenhimmel im Winter’ auseinander zu nehmen, hatte er dagesessen und sich Notizen gemacht. Die nächsten drei Tage saß er über Notizen und Diagrammen, die wie Requisiten eines Science-Fiction-Films aussahen, und tauchte nur gelegentlich aus seinem Zimmer auf, um sich Würfel, meinen kaputten Taschenrechner, Kreide, die Knochen eines Brathuhns und eine Rolle Lötzinn zu holen. Er wirkte nicht so locker wie sonst.
Am dritten Tag abends tauchte er plötzlich auf, in Hektik aufgelöst, ein Gebilde aus Lötzinn und Hühnerknochen in der einen Hand, die Notizen eines verrückten Genies in der anderen, und sagte, ich müßte ihn unbedingt zum Planetarium fahren.
„Die haben doch jetzt nicht mehr auf“, sagte ich.
„Egal, es ist wichtig! Das hier können sie nicht ignorieren!“
„Was ist so dringend“, fragte ich, als wir im Auto saßen.
„Kannst du nicht schneller fahren?“
„Nein“, sagte ich. „Die lokale Raumzeit-Konstante dieses Straßenabschnitts erlaubt nur fünfzig.“
„Gut“, sagte er. „Du beginnst zu verstehen.“
Ich sagte nichts. Was soll man darauf auch sagen.
„Die Sterne“, sagte er nach einer Weile. „Ich habe dir doch von den Dunkelsternen erzählt.“
„Ja“, sagte ich vorsichtig. „Und gesagt, sie seien Türen, und ich wollte nicht wissen, was dahinter ist.“
„Es sind Türen“, sagte er, „und die meisten sind geschlossen oder zu weit fort. Ich hatte nicht gedacht, daß dieser Planet…“
Was er weiter sagte, war mir so unverständlich wie seine Berechnungen. „Was hast du damit zu tun?“ unterbrach ich seine Ausführungen.
Er seufzte. „Es ist mein Job, daß so etwas nicht passiert.“

Wir hielten auf dem Parkplatz vor dem Planetarium. Es war etwas Schnee gefallen, und der Boden war rutschig. Das metallene Tor zu dem Park, der das Planetarium umgab, war abgeschlossen. Nikki kletterte hinüber, ich hinterher. Die Kuppel des Planetariums hob sich dunkel von dem Lichthimmel der Stadt ab.
„Oh nein“, sagte Nikki. Ich folgte seinem Blick nach oben. Über uns war ein Loch im Himmel, eine schwarze Stelle, nicht Nacht-in-der-Stadt-schwarz, nicht Sternenhimmel-schwarz. Es war leer-schwarz, die Idee von schwarz, für die dieses Wort erfunden wurde. Nikki drückte mir seine Notizen in die Hand. „Hau ab, schnell! Nimm das mit! Irgendwann wird jemand im Planetarium auftauchen und dich danach fragen, gib’ sie ihm… Lauf!“
Ich tat es. Das Schwarz hatte an meinen Nerven gezerrt. Ich wollte weg hier. Am Zaun sah ich mich kurz um. Das Schwarz war größer geworden. Nikki stand allein auf dem blassen Schnee und schwenkte seine Hühnerknochen. In dem Schwarz bewegten sich Dinge. Ich kraxelte über den Zaun, rannte zu meinem Auto, fuhr los und sah nicht zurück.

Nikki habe ich bis heute nicht wiedergesehen. Meine Mutter glaubt, ich hätte ihm den Laufpaß gegeben, und ist zufrieden. Meine Freundinnen glauben, er hätte mich sitzen lassen, und sind es auch.
Und ich gehe alle paar Tage ins Planetarium, knisternde Papiere in meiner Jacke. Wenn ich heimkomme, vergleiche ich sie mit Nikkis Notizen. Ich lerne die Namen, die die Sterne sich selber geben, und wenn es regnet, korrigiere ich die Namen der Tiere im Zoo.

Ingeborg Denner