Jeden Tag, den er erwachte, wünschte er sich, das zu finden, was ihm fehlte.
Einem Schiffbrüchigen gleich, welcher auf einer Insel gestrandet war, schritt er täglich den Strand des Lebens ab. Dabei herrschten in seiner Seele zwei Dinge vor. Zum einen war es die Dankbarkeit, am Leben zu sein, andererseits war es die Hoffnung, dass die Flut das ersehnte Gut eines Tages doch noch an Land spülen würde. Er war abhängig vom Schicksal, und das wusste er auch. Jenes allein hatte über den Verlauf seines Lebens entschieden, und bisweilen hatte es ihn hart bestraft, jedoch sah er es als Geschenk an, am Leben teilhaben zu dürfen, mit all seinen Beschwerlichkeiten und Glücksmomenten. Er war bescheiden und geduldig, eifrig und voller Konzentration bei seiner täglichen Suche, und am Ende eines weiteren erfolglosen Tages war er zwar traurig und erschöpft, jedoch nie verbittert oder zornig. Es war niemand Konkretes schuld an seinem Dilemma, sich selbst konnte er auch keine Vorwürfe machen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinen begrenzten Mitteln und der Hoffnung das Beste aus seiner Situation zu machen. Entfliehen konnte er ihr jedoch nicht, denn auch das hatte das Schicksal bereits für ihn entschieden.
Während er jedoch lernte, das Schöne zu sehen und (nur gelegentlich) mit ein wenig Galgenhumor über sich selber zu lachen, war das Schicksal empört und erzürnt.
Die Gelassenheit, mit der dieser Mensch sein Leid zu nehmen verstand, war eine Frechheit, ja sogar eine Auflehnung gegen seine uneingeschränkte Herrschaft, und dem musste um jeden Preis Einhalt geboten werden!
So nahm es dem Menschen das Augenlicht, um seine Suche zu vereiteln und ihm die Sicht für alles Schöne zu rauben. Und nachdem dies geschehen war, lehnte es sich mit hämischen Grinsen zurück.
Doch der Mensch dachte nicht daran zu verzweifeln. Nicht einmal traurig war er, sondern dankbar für die schönen Erinnerungen, welche dadurch, dass keine neuen Bilder hinzukamen, nicht verblassten, sondern, im Gegenteil, noch farbiger und schöner wurden. Seine Suche setzte er, mit den ihm verbliebenen Sinnen, fort, und weil diese den Verlust seiner Augen ausgleichen mussten, verbesserten sie sich in einem unvorstellbaren Maße. So hörte und fühlte er letztendlich alles Schöne um sich herum, wie es gesunden Menschen niemals möglich gewesen wäre, und er wurde noch dankbarer und glücklicher.
Das Schicksal hingegen tobte vor Wut über seinen erneuten Misserfolg. – Denn wenn der Mensch das Leben liebt, selbst wenn es Leid bedeutet, dann hat es selbst das Schicksal schwer. – Doch weil es noch nie verloren und stets das letzte Wort hatte, griff es in seiner Wut zum Äußersten. Es schickte seinen Diener, den Tod, zu dem Menschen, und dieser Diener war gnadenlos. Er quälte, er folterte, er brachte unsägliche Schmerzen, und auf dem Höhepunkt der Leidekstase umklammerte er das Herz des Menschen mit seiner kalten Hand und drückte es mit solcher Kraft zusammen, dass es aufhörte zu schlagen.
Da lachte die Seele des Menschen und verkündete froh, dass sie nun endlich gefunden habe, was ihr solange fehlte, denn sie war dort angekommen, wo sie dem Schicksal nie wieder ausgeliefert war.
Marian Heuser